VErfall, Krankenhauslivebericht, Danach -Kortisonstoßtherapie bei MS Schub 2009

 

14. Januar 2009, Mittwochvormittag

Ich bin so erschöpft. Endlich Niederschlag und doch spür ich diesen in den Knochen. Eisregen –über die Straßenbedingungen in über einer Stunde vermag ich jetzt noch nicht nachzudenken. Ein Tag mit Laufpause sollte sich nicht so auswirken wie es der Montag tat. Im Büro ist es kalt, unmerklich frieren einem die Füße ab. Und dann raus auf die Straße, das ohnehin schon angeknackste Vertrauen in meine Beine noch lädierter. Die ersten 20 Minuten hab ich sie gar nicht gespürt, konnte nicht drauf vertrauen, dass sie schon das richtige tun würden sondern dies lediglich hoffen. Und dann noch zu allem Überfluss so unendlich schwach. Mir blieb die Luft weg, der linke Arm schmerzte. Plötzlicher Läufertod klingt immer noch wie Erlösung. Doch ich rannte weiter, nach 4km wieder beeinträchtigt durch die Parese, welche freundlicherweise im Zuge der noch folgenden 5km in eine Lähmung überging. Am Ende gab ich es auf die einzelnen Aussetzer und Beinahestürze zu zählen. Es zählt doch nur wenn ich wieder auf dem Asphalt klebe mit blutigen Knien und Handflächen. Also, stell dich nicht so an! Alles halb so wild. Und was ist, wenn die Vollbremsung zu spät kommt? Schon vor über einem Jahr hätte stattfinden müssen? Was, wenn schon alles verloren ist? Und was, wenn die Erkältung nun doch Auswirkungen hat? Die Hemiparese nimmt zu, sowie die Doppelbilder. Werde ich überhaupt selbst fahren können? Das Protrahieren vom Protrahieren des protrahierten Schubes? Amüsant! Ich lach mich tot! Und funktioniert doch nicht. Weiter hoffen, dass die Wärme des Frühlings auch mich auftauen lässt? Ich habe keine Kraft mehr zu hoffen. Die Knie schmerzen, die Beine steif, der linke Arm lang. Und die Aussicht? Doppelt betrübt. Der Verletzungsgedanke schlummert immer noch griffbereit in mir. Wen kümmert’s? Selbsthass, Angst, Frust –Antrieb genug. Was ist denn schon geblieben außer noch mehr Narben auf vernarbtem Grund? Mich später auf den Weg machen, mich schonen? Ich kann es schon nicht mehr hören!!! „Der Körper ist dein zu Hause.“. Dann kann ich ja wohl noch über die Tapete bestimmen. Destruktivität ist auch eine Art von Aktivität. Mich aufsparen für den Moment. Der Nachmittag wird lang, besonders dann wenn der Lauf auch heute schlecht wird. Aber zumindest kann ich jetzt mit warmen Füßen losrennen und muss mich lediglich mit der „gewöhnlichen“ Taubheit rumschlagen. Vielleicht sollte das Vollbad heute Abend kurz bis gar nicht stattfinden, um den ohnehin schon aktiven Prozess nicht noch mehr „anzuheizen“.

Warten, warten, warten. Ich kann es einfach nicht ertragen. Mich selbst hinzuhalten gleicht einer Meisterleistung. Die Brötchen fürs Mittagessen wandern noch in den Ofen, das gibt zumindest noch einen triftigen Grund, noch nicht loszurennen. So schwach, und doch halte ich diese Starre nicht aus, muss etwas ändern, muss ihr entfliehen. Die Arbeit, die ich mir mit nach Hause genommen habe, ist auch schon längst erledigt. Obwohl gestern beim Abtippen der Berichte meine linke Hand versagte und letztendlich verkrampfte. Also darf ich nicht mal mehr das tun, oder wie? Wie sagte diese eine Frau im Forum: „Also ich langweile mich nicht zu Hause. ICH weiß was mit mir anzufangen!“. Ich würde mir nicht anmaßen zu vergleichen. Überflüssig. Oder soll ich sie nun darum beneiden? Denn ich weiß es einfach nicht. Und sie hat wohl nicht so einen schönen, ausgereiften Seelenknacks wie ich. Wie da vergleichen?

Nachmittag

Endlich ist es soweit, das Fernsehprogramm gibt nichts mehr her. Ich langweile mich zu Tode und dazwischen starke Krämpfe im Bein. „Lioresal ist ein hochwirksames Medikament…“, las ich gestern im Beipackzettel als ich nachsah, bis zu wie viel mg ich einwerfen kann. Von hochwirksam spüre ich leider nicht mehr viel. Und die Angst bekommt neue Nahrung. Ok, ich könnte mich damit trösten dass die Straßen alle voller Schnee waren und unebener sowie nachgebender Untergrund die Parese förmlich herausfordern. Doch so rasch und so massiv? Denn letztlich ging der Lauf schon beschissen los um nach 1 – 2km was die Fehlschaltung im Gehirn betrifft komplett aus dem Ruder zu laufen. Und letztendlich war der gestrige mit noch freien Straßen nicht viel besser. Eine Steigerung nach unten, wie? Was ist, wenn es sich nun wirklich nur noch verschlechtert? Ich weiß, dass diesem Fiasko mit Kortison nicht mehr Einhalt geboten werden kann. Zu viele Versuche und allesamt fehlgeschlagen. „Aber du hattest das gesamte Jahr hindurch immer wieder Durchhänger und hast sie gemeistert!“. Das tröstet nicht, noch fruchtet es. Ich habe Angst. Und doch überspielt von alles mit Schwarz bedeckender Gleichgültigkeit. Ich will schreien, doch ich kann nicht. Alles bleibt Gedanke und ich werde wie eine Unverbesserliche morgen wieder hinaus auf die Straße treten und losrennen. Mit welchem Ausgang auch immer. Man kann mir nicht mal vorwerfen, die Angst würde mich lähmen. Bin viel zu stur um es nicht zu versuchen. Muss mich fordern, austesten, immer und immer wieder. Dafür ist der scheinbare Untergang zu instabil, als dass er mich umbringen würde. Und immer noch vermag ich nicht darüber nachzudenken wie es sein soll, wenn dieser dann am Ende doch endgültig zuschlägt. Ja, was ist dann? Komplett durchdrehen, noch tiefer sinken und endlich das tun, was ich längst tun hätte sollen? Will ich so leben? Kann ich es? Und dann kommen sie wieder, diese Vergleiche: „Aber andren geht es viel schlechter!“, und: „Die meistern ihr Leben auch.“. Ich sollte längst tot sein,  längst verrotten, nicht mehr denken, atmen, existieren. Es ist schön für all jene, die es können. Doch ich bin nicht alle andern. MS hin oder her, mein Leben war schon immer eine Art Last.

„Ich weiß was mit mir anzufangen!“. Je länger dieser Satz durch meinen Schädel rotiert, desto zynischer klingt es. Ich denke ja nach, will mir selbst eine Idee und Aufgabe präsentieren, doch der Gedanke krepiert auf dem Weg zur Lösung. Depressive Lethargie. So einlullend. Ein Schatten meiner selbst.


15. Januar, Donnerstag 6:00

Der Eisregen ging während des Nachmittags in Schneefall über. Nun haben auch wir endlich Winter. Doch ob das tatsächlich Anlass zur Freude ist? Wie verpfuscht wird der Lauf heute? Um zumindest die Startbedingungen etwas zu erleichtern ziehe ich heute über meine Laufsocken noch extra dicke Wollsocken an um den Erfrierungserscheinungen im Büro entgegen zu wirken. Desillusioniert. Vielleicht hilft vorausgegangenes Schwarzreden um den Lauf zu verbessern? Mein linker Arm ist noch länger und mir wird bewusst, warum ich wahrscheinlich schon instinktiv immer Couch- und Gabelfreundlich koche. In naher Zukunft sehe ich uns schon in irgendeinem Restaurant sitzen und Sebastian darf mir das Essen klein schneiden. Wie früher bei Muttern –idyllisch! Doch ich bin nicht mehr in der Lage Gabel und Messer zu halten. Wäre ich gläubig oder abergläubisch könnte ich jeden Tag drei Kreuzzeichen machen, weil es den linken Arm erwischt hat. Ein kastrierter Rechtshänder? Seines letzten Ausdrucksmittels beraubt? Kein Malen mehr? Ich mag nicht darüber nachdenken. Das macht mir genau so große Angst wie der anstehende Verlust des Laufens. Und damit ich bloß nicht vergesse, dass ich krank bin, gehen die Spasmen von neuem los. Bin doch erst aufgestanden, hab doch vor einer halben Stunde meine Tablette eingeworfen, gönn mir doch mal einen kleinen Augenblick Verschnaufpause, ja? Vergiss es! Kein gutes Zeichen und hat nun mit dem Laufen direkt nichts mehr zu tun. Was steht auf dem Programm? „Weiter protrahieren!“. Den Schmerz ausatmen, ignorieren, wegdenken. Und ich weiß immer noch nicht, wie ich in einer Woche nach Oberwart komme. Nachdem ich mir gestern den Gefallen getan hab und die Autoscheiben frei kratzte, kamen mir arge Zweifel an meinem Vorhaben. Ich musste es tun, denn kaum war ich in Jennersdorf angekommen ging wortwörtlich gar nichts mehr. Und eine halbe Stunde im kalten Auto sitzen? So quälte ich mich mit dem Eisschaber ab, um die restliche Zeit zum Einkaufen zu nutzen. Der Polizist vor der Volksschule sah mich ganz verdutzt an, als ich davor erst noch in seine Richtung lief, dann abrupt anhielt und stark das linke Bein nachschleifte als ich gehend versuchte wieder zum Parkplatz zu gelangen. Da ging wirklich nichts mehr. So hat mich das Kratzen zwar unglaublich überanstrengt, aber ich konnte im Auto sitzen und dann im warmen Supermarkt wieder auftauen. Und wenn nun das Wetter so bleibt? Das Auto über Nacht da auf dem Gelände neben dem LKH steht und komplett zugefroren ist? Und was, wenn es am zweiten Tag doch länger dauert und meine Augen versagen? Der Taxiunternehmer hat zwar bereits meine Transportscheine, doch bis diese bewilligt sind kann noch Zeit vergehen. Und bei meinem Glück stehen auch noch die falschen Gründe drauf und sie werden ohnehin abgelehnt. Nein, ich will nicht dass mich meine Mutter fährt. Ob pseudolustig oder leidend –dieses Theater ertrage ich nicht. Ich möchte mich nicht unterhalten, mich nicht um andre kümmern müssen. Möchte es allein durchziehen um mir voll und ganz bewusst zu werden, welche Chance ich da serviert bekomme.


16 Januar, Freitagmorgen

Meine Arbeit ist praktisch, die Integrationsbegleitung ist immer auf Möbelspenden angewiesen und ich werde so nebenbei lästig gewordene Schränke und Kommoden los. Vorausgesetzt sie kommen heute mit dem Pritschenwagen den verschneiten Hohlweg hoch. Bin immer noch schrecklich müde, wäre lieber im Bett geblieben als aufzustehen und in der Firma über den Zustand unsrer Einfahrt Bescheid zu geben. In meinem Traum war ich längst im Krankenhaus und sollte noch eine Untersuchung über mich ergehen lassen, die erst entscheiden würde ob ich für die Therapie in Frage komme oder nicht. Die Ärztin sagte aber im Voraus: „Sieht schlecht aus, das wird wohl nichts!“. Ich bekam Panik und flüchtete mich in andre, verwirrende aber auch ruhigere Bilder. Ich bin tatsächlich aufgeregt. Und trotz aller Vorzeichen unerschütterlich, was den kommenden Lauf betrifft. Gestern wurde ich mehrfach vom Wege abgebracht, erst schlossen sich die Bahnschranken vor meiner Nase und ich musste vorzeitig abbiegen, dann hatte ich erst einen Minischneepflug vor mir auf dem Gehsteig und ich fühlte mich königlich, doch dann machte er mitten im Weg eine Kehrtwendung, fuhr zurück und die geplante Strecke vor mir war dermaßen zugeschneit, dass ich wieder umkehren musste. Und auf den 6km war alles vertreten was Rang und Namen hat. Die Schwäche im Bein ging gleich am Anfang los, die Lähmung ließ sich nicht lange bitten. Hinzu kamen massive Schwächeschmerzen im linken Bein, von Spaß war keine Rede. Pausen um Pausen folgten. Erst vorm Schuhschrank stehend erinnerte ich mich an das Paar Trailschuhe, die besseren Griff auf all dem Schnee gegeben hätten. Aber die Knie schmerzen ohnehin schon, die Schuhe hätten es nur noch angeheizt. Und? Was mach ich jetzt? Eine Laufpause scheint inakzeptabel. Der Arm noch länger, das Bein noch schwerer. Dennoch, unerschütterlich sitz ich wieder in meinen Laufsachen bereit um heute eine viel anspruchsvollere Strecke in Angriff zu nehmen. Auf Teufel komm raus.


19. Januar, Montag 6:30

Ist da Angst? Trauer? Oder gar mehr? Ich lächle, mache Witzchen und doch auch keinen Hehl aus meiner Verbitterung. Wäre der plötzliche Verlust all dessen, was ich  im Kriechtempo einbüße, nicht einfacher zu verdauen? Als ich freitags in diese gigantische Vogelschar lief und sprachlos innehielt, kamen mir die Tränen. Es war so unglaublich schön und doch so bitter. Mit einem Schlag wurde mir erneut bewusst, was ich alles verloren habe. Die einstige Leidenschaft ist nur noch zu erahnen. Und die Läufe an sich? Zerfressen von Pausen und der massiven Schwäche im Bein. Lag es daran, dass ich die letzten drei Tage eben nur noch diese harte Strecke lief? Die Parese deswegen schon in den ersten Schritten aktiv war? Samstags fuhren wir nach Fürstenfeld und als wir kurz durch die Stadt gingen, versagte mein Körper komplett, ich sehnte mich förmlich nach meinem Rollstuhl oder dem Sofa, doch zwang mich selbst weiterzugehen. Es wurde immer schlimmer, am Ende wusste ich nicht mal mehr, ob ich überhaupt noch gehen kann. Doch wir stellten uns auf den Behindertenparkplatz des Baumarktes, ich platzierte meinen Parkausweis hinter der Windschutzscheibe und schleifte mich noch ein letztes Mal durch den Laden. Und als ob all dies noch nicht beschissen genug wäre, nimmt nicht nur die Hemiparese kontinuierlich an Intensität zu. Im Bein ein anhaltender Schmerz. Von mir liebevoll Schwächeschmerz genannt. Doch wäre Spastik nicht angebrachter? Warum stellen die Ärzte nie etwas fest? Würden sie es jetzt tun? Und die Spasmen sind zum Teil mit Lioresal nicht mehr in den Griff zu bekommen. Als ich da stand und die Vögel beobachtete, begann mein linkes Bein stark zu zittern. So versuchte ich es erneut mit Magnesium, um nicht vorschnell Aussagen zu tätigen. Doch es half auch nicht. Und als wir durch den Baumarkt gingen und ich das linke Bein schon nachschleifte, begann das rechte erneut wie beim Schub klonisch zu zittern. Jetzt hatte ich Angst. Angst davor, dass der Schub doch nicht mit einer Remission zu Ende ging, sondern wie schon letztes Jahr protrahiert oder eine Narbe zurückgeblieben ist. Und ich sammle und sammle und sammle. Kann denn nun noch von einer schubförmig remittierenden MS die Rede sein? Ich wage es zu bezweifeln. Endlich bei sekundär progredient angekommen? Das würde zu diesem schleichenden, unterschwellig  und parallel zu den Schüben laufenden Verfall passen. Aber würde dies jemand ansprechen? Ich werde nicht ernst genommen. Wenn die eine Ärztin mir doch tatsächlich ins Gesicht sagte, sie könne nichts feststellen obwohl sie doch sah, dass ich das Bein nicht mehr heben konnte.

Mein linker Arm ist noch schwerer, die Hand noch plumper. Und das Bein? Schwer und durchzogen von diesem unangenehmen Spannungsgefühl, das allmählich in einen schmerzenden Zustand übergeht. Und als Sebastian vorher ging und ich ihm Tschüss sagte, war der Gedanke auch zu gehen, ganz nah. Alles scheint egal, meine Liebe, die Therapie, mein Leben. Doch war es das nicht schon immer irgendwie?


20. Januar, Dienstag 6:15

Ich musste mir wehtun. Ich hab es nicht anders verdient. Nachdem mich die Sprechstundenhilfe meines Hausarztes wieder so angefahren war, mit dem Transportschein zur Krankenkasse, die Chefärztin war gleich bei Hannes am Pult. Ich legte den Transportschein hin, sie lugte durch das Loch in der Glasscheibe: „Keine Gehhilfen?“. Klar zu machen, dass ich nicht weit gehen kann, was ja nun auch stimmt, und danach durch Jennersdorf zu laufen, was für jeden widersprüchlich erscheint, war unmöglich. Anscheinend werden auch die beantragten Taxifahrten nicht bezahlt. Und mit meiner Mutter fahren um alle vier Wochen in eine tiefe Sinnkrise zu stürzen scheint unerträglich. Plötzlich war ich Nichts. Ich fuhr noch zum Parkplatz der Firma, doch stieg nicht aus um loszurennen. Erst heute Morgen hatte ich mir bei der Hinfahrt zu meiner Arbeit vorgestellt, was denn nun so schlimm wäre den Gurt abzulegen und Gas zu geben. Dass Sebastian das Auto doch noch bräuchte? Und nun noch kleiner und überflüssiger. Chemofahrten werden komplett bezahlt, warum meine Therapiefahrten nicht? Ich hatte eine Chemo, ich weiß im Ansatz wie sich das anfühlt. Kortison ist auch nicht angenehmer. Und auch ohne dieses ist mein Körper unendlich schwach. Und der gefühlte Käfig wurde enger und enger und das Pflegegeld war wieder Thema. Meine Mutter versuchte mich am Telefon zu beruhigen, doch das fruchtete nicht. Ich bin nicht wie alle andern, bin nicht zum Lügen und Heucheln geboren. Und auch wenn die Amtsärztin mich tatsächlich mit ihren Fragen damals in die „richtige“ Richtung manövrierte, es ändert nichts daran dass ich das Gefühl habe, dieses Geld nicht verdient zu haben. Auch nicht die Tatsache, dass ich wirklich Hilfe gebrauchen könnte, mich aber selbst überanstrenge und überfordere indem ich die Dinge alleine mache. Wie auch immer. Scheiße! Scheiße! Scheiße!!! Wenn da das Leben nicht unwert erscheint, weiß ich nicht wann sonst. Ich quälte mich nach dem Essen noch durch einen kurzen Lauf, der beschissen war. Und dann, nachdem ich meine Haare gewaschen und mich umgezogen hatte, alles um mich rum wieder ordentlich war, setzte ich mich an den Esstisch, das rosarote Frotteetuch zu Füßen und öffnete die Haut. Immer und immer wieder. Kein Schmerz, doch das Blut quoll förmlich aus den Schnitten, als hätte es längst raus gewollt oder ich kurz vorm Platzen. Unendliche Stille, doch nicht im Kopf. Es blutete lange, eine adrette Pfütze auf dem Handtuch. Dann kam meine Mutter vorbei und startete den zweiten Versuch mich zu überzeugen, dass ich das Geld sehr wohl verdient habe. Sinnlos. Und sie redete und ich konnte nicht zuhören. Von all dem, was sie mir erzählte, kam nichts in meinem Kopf an. Und dabei gab ich mir Mühe. Als sie ging, warf ich eine meiner alten Videokassetten in den Recorder und tat mir noch mehr weh. Das bin ich, da auf dem Pferd. Doch ich kann mich nicht mehr erinnern, wie es sich anfühlte. Und all die Landschaftsaufnehmen aus dem ganzen Dorf und dessen Umland. Wie weit bin ich damals gekommen, wie viele Schritte gegangen. Ich war so frei. Der Arm hatte aufgehört zu bluten, es brannte nicht mal. Nun blutete mein Herz. Bin ich depressiv? Zerfliese in Selbstmitleid? Oder ist es echt?

Die Muskulatur im Bein verkrampft sich unangenehm, der Fuß bleibt auf dem Boden kleben. Der Arm noch länger. Immer noch mit mir hadern, ob ich heute durch Jennersdorf laufe. Wieder an dem Punkt, alles hinzuwerfen, einfach kampflos aufzugeben. Oder wie gestern erst nachmittags, wo es eigentlich keinen Sinn mehr macht? Wieder den steilen Berg hoch um mich noch mehr zu überanstrengen? Scheiß egal, ob es schadet oder nicht? Ich werde wieder lächeln. Für ihn, für alle andern. Ich bin egal.


21. Januar, Mittwoch 9:00

Ich habe es gewagt und mein Bein hat versagt. Ende des lustigen Reims. Und dennoch irgendwie 8km rausgeholt. Meine Knie danken mir den teils humpelnden Laufstil und wer hätte das gedacht? Das Bein noch schwerer und der Arm noch länger. Bald müsste doch der Boden erreicht sein, oder? Die Spasmen abends zeigten sich von 20mg Lioresal nicht sonderlich beeindruckt. Nachts wegen Krämpfen auszuwachen, ein weiterer Schritt die Karriereleiter hoch. Das Bein fühlt sich nicht gut an, der Spanungsschmerz meldete sich bereits gestern dezent nun auch im Arm. Und ich frage mich, was ich tun soll? Vernünftig sein, mich von Sebastian hinfahren lassen und mit der Rettung nach Hause? Selbst fahren, wie ich es gestern beschlossen hatte? Riskieren, dass es freitags doch länger wird und ich nicht mehr fahren kann? Fragen über Fragen –scheiß Waage! Der Progredienz eine Plattform bieten und doch Kortison? Zumindest irgendetwas versuchen? Um mir dann nichts vorwerfen zu müssen? Wird sie endlich eine Spastik feststellen? Irgendetwas muss doch da sein. Ein Tag noch und im Moment bleibt offen, ob mich meine Augen morgen nicht im Stich lassen. Das Wetter hat zudem komplett umgeschlagen. Morgens vor der Firma sang eine Amsel, nachmittags erreichte das Thermometer ostseitig des Hauses 13°C, der Schnee somit Geschichte. Achja, schneien soll es heute auch wieder. So wie letzten Freitag (Sonnenschein) und auch Sonntag (ebenfalls Sonnenschein), dann rückte die Prognose auf Montag (Sonnenschein mit Wolken). Ob ich mir über das Wetter auch noch Gedanken machen muss? Egal, erstmal laufen. Egal wie.

Nachmittag

Regenprasseln dringt durch den Dunstabzug. Leises, unregelmäßiges Klopfen. „Können wir dann ein zweites Auto haben?“. „Aber Dirndl, morgen soll es spiegelglatt werden.“, und: „Auch wenn du vorsichtig fährst, was ist wenn dir so ein Trottel rein fährt?“. Hätte ich sagen sollen, dass es mir egal ist? Dass es scheiß egal ist ob ich noch lebe oder nicht? Hätte ich ihr das an den Kopf knallen sollen? Nein, aber Sebastian durfte es sich anhören und er warf ein: „Aber mir ist es nicht egal, ICH brauche dich!“. Regen und meine beiden Kinder schlummern um mich rum. Erst beim Lauf wurde mir bewusst, worauf ich mich da erneut einlasse. Geht es mir gut? Zu bezweifeln. Als Sebastian gestern das Wohnzimmer verließ und meinte, seine Schwester würde anrufen und ich solle dann rangehen, blieb mir die Luft weg. „Ich kann nicht…“, schon fast keuchend. Ich hab sie total lieb, aber ich konnte einfach nicht. Abgesehen davon, dass sie ohnehin nicht anrief, fühlte ich mich schlecht. Und nun wurde mir bewusst, dass ich morgen und übermorgen mit irgendjemandem das Zimmer teilen werde und es fühlte sich noch schlechter an. Ich will keine Menschen um mich rum, ich ertrage es nicht. In der Arbeit funktioniere ich. Aber die restliche Zeit ist zu viel. Und ich starre meine Arme an und schäme mich beinahe für diese Katzenkratzer. Als ob irgendjemand die Intensität der Verletzung und die Tiefe der Schnitte noch als Gradmesser für das Leid erachten würde. Als ob es irgendwen interessiert, als ob ich mich mit irgendwem oder irgendetwas messen müsste. Der Lauf war schlecht, keine Frage. Das Bein, der Arm –unangenehme Anhängsel die spätestens in ein paar Stunden schmerzen werden. Und wieder: Ich würde gern… Dann stirbt der Gedanke auf seinem Weg zur Umsetzung. Der Aquarellblock liegt neben mir, auch das Federpennal mit den Stiften. Doch ich kann nicht. Mich noch einmal aufschlitzen? Um irgendwem irgendwas zu beweisen? Um morgen kund zu tun, dass ich im Moment vor Selbstachtung und Selbstliebe nur so sprühe? Oder einfach nur für mich, weil ich mich schlecht fühle und in mir selbst gefangen keinen Ausweg sehe?

 

Immer noch Regen, Stille im Raum, betäubtes Zusammensinken. Das Blut zu dick, doch zumindest brennt es nun leicht. Mir ins Gesicht schneiden? Ich kann mich nicht leiden.


22. Januar, Donnerstag 4:45

Aufstehen um 4. Hätte ich im Bett bleiben sollen um die zwei Stunden bis zum Klingeln des Weckers zu nutzen und Sebastian festzuhalten? Vielleicht ist es das letzte Mal? Ich hab ja ein Vertrauen in meine Fahrkünste. Tatsache ist, dass ich nur hoffen kann, dass es zügig hell wird, entgegenkommende Scheinwerfer machen mir doch zu schaffen. Es regnet immer noch, doch Glatteis ist ebenfalls nicht zu erwarten. +3°C. Ich tue das, was ich jeden Morgen tue. Verwische meine Spuren, bringe das Sofa in seinen Grundzustand, räume das Wohnzimmer auf und denke darüber nach wie es wäre, nicht wiederzukehren. Gestern gegen Ende des Nachmittags war der tote Punkt erreicht. Ich zog mir noch eins meiner Videos rein. Dachte immer, ich hätte nie Pläne für mein Leben gehabt. Doch einen hatte ich: Ein eigenes Pferd. Kaputt! Und alles andre folgt. All das, was mich einst ausmachte, ist tot. Was ist von mir übrig geblieben? Ein verbitterter Misanthrop? Ich glaube nicht, dass ich den Menschen an sich hasse. Solange er mir fern bleibt. Und ich verstehe so vieles nicht was der Mensch an sich tut, verachte so vieles. Diese Fahrt ins Krankenhaus gleicht irgendwie einer Auslieferung, setze mich selbst im Gefängnis ab. Und versuche mich selbst zu beschwichtigen. „Es ist nur 1 Nacht, morgen fährst du wieder!“. Hab ich einen Krankenhauskoller? Die ersten Male waren Abenteuer, doch nun kann ich noch so viel Beschäftigung in den Rucksack stopfen, es fühlt sich nicht sicherer an. Gar nicht erst anzukommen, klingt wie ein erlösendes Versprechen. Was wäre das letzte, das ich sehen würde? Dieses Wirrwarr in meinem Kopf und dessen endgültige Auflösung? Endlich Klarheit? Wie das Ende eines verwirrenden Filmes an dem man zu dem erleichternden Schluss kommt: „Ah, so ist das!“? Als wir das Auto holten, drückte mich meine Mutter noch einmal. Und sie erzählte von einem schicken Ring, den sie sich gekauft hatte. Und ihre Beschreibung, diese Begeisterung, das Lebendige ließ mich nicht mehr los und ich sah sie wieder sterben. Dann war Sebastian dran. Es tat weh, es tut immer noch weh. Ich darf nicht glücklich sein. Kaputt, so kaputt. Zur Selbstgeiselung geboren. Wäre ich nicht krank, wäre es anders? Was wäre so schlimm daran dieses Leben am nächsten Baum in der Allee zu verschwenden? Flucht vor der großen Katastrophe. Doch ich werde am Baum vorbeifahren, werde alle Bäume auf diesem Todesstück hinter mir lassen und werde morgen wieder kommen. Um weiter in meiner Trauer und Angst zu hocken und mich davon zerfressen lassen.

Ich sollte nicht wach sein, sollte noch eine Stunde schlafen. Das Bein krampft und der erste Gedanke geht Richtung Tablettenhaufen. Doch ich verbiete es mir, will dass sie sieht, dass da etwas ist. Und zweifle doch daran, dass es einen Unterschied macht. Es wird sein wie immer. Mir den Mund verbieten, um nicht erneut Emotionen andrer abzufangen, für die ich mich erneut verantwortlich fühle und an denen ich schuld bin.

Nachmittag


23. Januar, Freitag 3:00

Wach seit 2:00.
Drei Stunden Schlaf.
Hab mich bemüht im Bett zu bleiben, abzuwarten, ob denn der Schlaf noch kommt.
Er kam nicht.
Wieder ein blasses Puppengesicht im dämmrigen Raum.
Der Kaffee schmeckt nicht. Nicht mehr.

 

Ich kroch noch einmal ins Bett und ließ mich festhalten. Kein Schlaf, ich weinte still ins Kissen und sah alles und jeden untergehen. Dann machte ich mich auf den Weg.

Es war ein junger Arzt, Titel „Turnusarzt! Und Mädchen für alles!“, wie er sich selbst bezeichnete. Ich präsentierte den rechten Arm. Narben auf Narben, er fragte, ob ich schon länger aufgehört hätte. „Ich habe nie aufgehört.“, und zog den linken Ärmel hoch, da er diesen ohnehin zu Gesicht bekommen würde. Er musterte eingängig die Anordnung der Verletzungen: „Sie gehen sehr präzise vor!“. „Ja, man könnte fast ein Geodreieck anlegen, nicht?“, schiefes Grinsen meinerseits. Ich fuhr fort mit meinen lustigen Späßchen und meinte dazwischen: „Ich könnte auch heulen, aber das würde uns beiden nichts bringen.“. Anfangs zeigte er sich noch motiviert, selbst wenn ihn die Schwestern bereits gestern vor mir gewarnt hatten. Doch den Wind nahm ich ihm schnell aus den Segeln und ich sollte das Untersuchungszimmer in der Ambulanz die nächsten Stunden nicht mehr verlassen, bis auf einen Kurztrip ins Erdgeschoss zum Herrn Dr. Powischer um ein Lungenröntgen machen zu lassen. Jegliche Entzündungen sollten ausgeschlossen werden. Er stach und stach und stach. Mal konnte er die Vene nicht einfädeln, dann gingen sie beim Anstechen auf oder waren zu. Erst sagte er noch, er hätte schon mal Schlimmeres erlebt, doch er sollte von dieser Meinung schnell abkommen. Bei Stich 9 endlich ein Zugang, aber keine Blutabnahme. Nun war ich das „Schlimmste“, das er je erlebt hatte. Ein 10. Stich war nötig um das Blut arteriell abzunehmen. Eine ganze Stunde war verstrichen, nun hieß es warten auf die Befunde vom Röntgen und auf die Blutwerte. Das Computersystem streikte, der Arzt im Röntgen verschollen. Es dauerte. Wir unterhielten uns übers Wandern, Onlinerollenspiele, österreichischen Fußball und das amerikanische Gesundheitswesen: „Eine neuere Studie ergab, dass das amerikanische 13% des Bruttoinlandprodukts ausmacht, das österreichische nur 9%. Vom amerikanischen profitiert nur ein kleiner, begünstigter Kreis, hier jeder. Ja ja, god bless america!“. EKG, Blutdruck, Puls. Schwester Elsabeth schwang das Stethoskop, ich war soeben im humpelnden Schweinsgalopp vom Erdgeschoss wiedergekehrt und sie meinte: „Noch ganz außer Atem, wie?“, und war erstaunt gerade mal 60bpm Puls zu messen. Das Laufen muss doch irgendetwas bewirken, außer die Arthrose voranzutreiben. Die Lunge in Ordnung, das Herz in Ordnung und den erhöhten Cholesterinwert erklärte er mir so, dass dies nicht schlecht sei, da das gute Cholesterin zu hoch sei und das Schlechte im Normbereich. Aufnahmegespräch, Aufzählen all der Gebrechen, er musste die Spalte neu einteilen –kein Platz mehr. Er meinte auch, dass man den Borderliner schon immer wieder raushören würde. Wann? Wenn ich wieder Mal das BUHtema Sterben ansprach? Bzw. konkret mein Ableben? Als er fertig war und ich meine Manschette ums Handgelenk gelegt bekommen hatte, kam meine Neurologin: „Wie geht es denn beim Laufen?“. „Ich weiß…“, und ich fiel in einen sarkastischen Unterton: „Andre wären froh, wenn sie drei Kilometer laufen könnten…“. Sie resolut: „Vergleiche sind irrelevant, was zählt ist, was Sie empfinden.“. Ich glaube langsam, sie versteht mich wirklich: „Es hat sich nochmals verstärkt und ich habe nun wirklich Angst, dass dies das Ende für mein Laufen sein könnte.“. „Diese Signalanhebungen, wie ihr Radiologe es nannte, zeugen ja von einem laufenden Prozess und entsprechen ihren Beschreibungen. Aber das Risiko, Tysabri und Kortison zu mischen, würde ich nicht eingehen. Dann machen wir, wenn sie möchten, 5 Tage Kortison und das Tysabri holen wir in zwei Wochen nach.“. Kurz überlegte ich, auf was ich mich da erneut einlasse, doch die Vernunft war stärker. Der Gemüsestrudel wurde wieder abbestellt, ich wieder abgemeldet und der Arzt konnte endlich mit mir abschließen und das Kortison anhängen. „Auf hoffentlich heute nicht Wiedersehen!“, und ich schleppte mich samt Rucksack und Walter nach draußen in die Kinderecke. Der Venflon begann bereits nach kurzem seinen Dienst zu quittieren und ich murkste und pfriemelte eine gefühlte Ewigkeit an Regler, Schlauch und Zugang herum, ehe es wieder lief. Nun war mir egal wie schnell es lief, Hauptsache es kam rein. Nach einer Stunde war es geschafft und meine Ärztin bat mich nochmals in den Untersuchungsraum. „Darf ich Ihnen eine wirklich, wirklich dumme Frage stellen?“. „Es gibt keine dummen Fragen.“, entgegnete sie freundlich. „Gut, dann eben eine außergewöhnliche Frage. Wie sieht das aus mit Sport während der Kortisontherapie, wäre es kontraproduktiv?“. Sie gab zu bedenken, dass Überanstrengung immer schlecht für die MS sei, aber letztendlich keinen Unterschied machen würde ob man es nun unter Kortison macht oder ohne dieses. Sie machte wenige Tests und sagte, dass die Parese dann doch von der Hüfte ausginge. Ich hätte gerne noch gewusst, ob das Bein denn nun spastisch ist oder nicht. Sie überprüfte dies zwar nicht, sprach aber von Spastik als ich meine Krämpfe und dieses schmerzhafte Spannungsgefühl beschrieb und gab mir noch ein weiteres Medikament, das dieses Gezappel zumindest abends miteindämmen sollte. Irgendwann nach 12 Uhr war ich ENDLICH fertig.
Die Fahrt zurück war wie bereits die Hinfahrt kriminell. Bzw. vermittelten mir meine Mitfahrer, dass ich ein Verbrecher der Landstraße bin, wenn ich da so vor mich hinfahre, mich konsequent an die StVO halte und den Verkehr im Allgemeinen ausbremse. Es gab fast KEINEN, der mich nicht überholte. So unerhört und schon fast terroristisch, wie ich da innerorts 50, in der 70er 70 und dazwischen 100km/h fuhr. Wahrlich, unerhört von mir. Als dann irgendwo in irgendeinem Ort ein LKW an mich ranpreschte und ich nur noch den Kühlerrost überdimensional und angsteinflößend im Rückspiegel sah, wurde mir ganz anders. Und als ich dann noch die 50 bis zum Ortsendeschild durchzog, dachte ich schon, gleich setzt er die Lichthupe, hupt mich an oder prescht an mir vorbei. Wo ist die Polizei? Und dann noch so ein Drängler. Er überholte und plötzlich riss er, nachdem er sich wieder rechts vor mir eingereiht hatte, das Lenkrad rum und raste auf die entgegenkommende Fahrspur. Da lag nichts auf der Straße, da rannte auch nichts über diese. Und dann riss er wieder rum und reihte sich wieder an. Meine Mutter meinte spöttisch: „Nein, das nennt man nicht Kurveschneiden. Das nennt sich unter Rennfahrern DRIFTEN!“. Kurve ist gut, war das eine?
Egal, ich war wieder zu Hause, wie schon angekündigt, und dazu fix und fertig. Die Spasmen wurden immer intensiver und als ich abends erst 20mg Lioresal einwarf, passierte nicht viel. Dann nahm ich eben noch die 6mg Sirdalud und das haute rein. Alles entspannte sich, ich sank tief in die Kissen und genoss diesen reizarmen Zustand. Leider nicht lange. Nach 3 Stunden war der Zauber vorbei und die Beine zappelten erneut. Und im Moment geht es schon wieder los.
6:00 Uhr

Die Zeit ist zu lang, ich trinke noch eine letzte Schale „geschmacklosen“ Milchkaffee und werde doch früher losfahren als geplant. Katze geht, andre Katze kommt. In meinem Kopf absolutes Nichts, die Seele tot, kann nichts spüren. Außer dieses penetrante Gefühl, das mittlerweile beide Beine durchzieht. Zeit für die Medikamente. Erst die Lachsölkapsel, dann Arthrobene für die Knieschmierung und am Schluss Lioresal. Und hätte diesen überflüssigen Scheiß nicht aufgeschrieben, hätte ich noch die Blutverdünnung vergessen. Auf der Suche nach einem unbefleckten Stückchen Haut am Bauch scheitern. Das Copaxone darf ich ebenfalls nicht vergessen einzupacken. Endlich wieder Essen in den Kühlschrank räumen. „Na, Vernflon? Du meldest dich gar nicht mehr?“. So weit vorn am Handrücken. Zu weit. Ich sehe mich wieder auf dem OP-Tisch liegen. Obwohl sich nicht zu melden nicht zwangläufig bedeutet, dass er nicht mehr funktioniert. Dennoch ist der gestrige Tag ein schon fast eindeutiges Indiz dafür, dass ich auf Dauer dann doch nicht um einen Katheder drum rum komme, wie?

Abend

Ich setze Grenzen, diese werden umgangen. Niedergerissen mit netten Gesten und Gefälligkeiten, um die nicht gebeten wurde. Ich habe gestern am Telefon klar gemacht, man möge mich bitte die nächsten Tage in Ruhe lasse. „Jaja, wir lassen dich in Ruhe, wenn du was brauchst, melde dich einfach.“. Sie rief vorhin an, wir kamen soeben aus Jennersdorf, war noch gar nicht richtig zur Tür herein. Und sie hörte nicht auf zu erzählen, ich reagierte die letzten 10 Minuten kaum noch oder nur noch mit Seufzen und Stöhnen. Demonstrativ, aber auch weil ich einfach nicht mehr konnte. Und doch war ich nicht in der Lage das Telefonat abzubrechen. Ich hatte sie donnerstags gefragt, ob sie vielleicht noch einen alten Fön hätte. Nun ruft sie an, sie hätte mir einen neuen gekauft. Warum? Um sich eine Tür in die Grenze zu kaufen? Um sich durchzumogeln? Warum tut sie das? Warum will sie nun auch noch vorbeikommen? Und ich machte den Fehler sie um einen Gefallen zu bitten und montags für mich das letzte Kortisonrezept zu holen. Damit hatte ich mich komplett ausgeliefert. Ich bin überhaupt nicht in der Verfassung für einen Besuch von ihr noch von sonst wem. Warum? Und ich fühle mich schlecht, weil ich so darüber denke. Weil ich so undankbar bin, weil ich so schlecht bin. Blutflecken vom weißen Toilettensitz wischen und letztendlich das Blut nur noch überall verteilen. Mich aufschlitzen, egal, welches Fiasko das morgen im Krankenhaus gibt. Ich hasse mich. Ertrage die Situation nicht. Verstehe nicht warum sie immer dann am meisten nach mir giert, wenn ich es am wenigsten vertrage und dies auch noch klar und deutlich zur Sprache gebracht habe. Denkt sie nicht mit? Denkt sich nichts dabei? Glaubt sie, ich bräuchte sie nun in diesen schweren Zeiten? Warum ist mein Nein keinen Pfifferling wert? Warum kann man mein Nein erkaufen und annullieren? Bin ich so wertlos? Ich HASSE MICH!!!! Und es tut mir so leid…


Es reicht nicht, darf nicht genügen. Nochmal und tiefer. Kreuz und quer. Du bist so unsagbar verabscheuenswürdig! Dreck!!!! Elender Dreck!!!!


 

24. Januar, Samstag 6:00

Ich hatte mir die Schuld aus dem Leib geschnitten, danach fühlte ich nichts mehr. Alles war tot und egal. Vor der großen Terrassentür wurde es heller und heller. Dicke Schneeflocken fielen vom Himmel und deckten die Welt da draußen im dunklen Nichts zu. Und ich hielt mich so lange wach, wie es mir möglich war, aus Angst nachts erneut aufstehen zu müssen. Beinahe 24 Stunden, es reichte. Im Bett bebte mein Herz in meiner Brust und der Widerhall seines Schlages donnerte in meinen Ohren. Ich musste den Puls zählen. Immer wieder, jedes Mal wenn ich die Augen ungewollt aufschlagen musste. 48bpm. Immer wieder 48. Dann kam der Kopfschmerz und das Donnern hallte auch noch in schmerzenden Impulsen in der Schläfe wider. Das Gewicht explodiert, schon nach zwei Tagen. Zwei Tage erst –noch nichts geschafft. Wie soll es weiter gehen? Der Zugang vom Vortag war hinüber, es staute sich sofort unter der Haut. Gestern wieder langes, hoffnungsloses Suchen nach Venen. Den Arm nun noch komplett zerschnitten zu haben, der Sache ebenfalls nicht dienlich. Pech! Erfreulicher war dass ich zum ersten Mal einen Arzt duzen konnte. Eine Schulkollegin aus meiner Haupt- und Gymnasiumsschulzeit, die ihre letzten beiden Wochen Turnus noch auf der Neuro verbringen darf. Wir unterhielten uns, von Kindervenlon wurde auf Besteck für Säuglinge umgesattelt, und auch wenn es ebenfalls lange dauerte, benötigte sie nur 4 Stiche. Und es war seltsam bis unangenehm jemandem den ich kenne meine Arme zeigen zu müssen. Doch sie reagierte nicht darauf, was auch besser war. Bedingt durch den winzigen Zugang verdoppelte sich die Laufzeit, ich konnte nicht mehr. Schwester Hedi sagte immer wieder: „Arme Maus!“, und verzerrte unentwegt das Gesicht. Der Venflon musste anschließend entfernt werden, er saß noch weiter vorn als sein Vorgänger und hätte ohnehin nicht überlebt. Zudem war er bombenfest an Hand und Finger geklebt, so hätte ich nicht fahren können. „Es tut mir leid…“. „Ach, dass sie lange suchen müssen ist doch nicht schlimm. Aber du wirst immer wieder gestochen, das tut doch weh. Du Arme.“. Ich glaube nicht. Denn das Mitleid mit mir hält vielleicht die ersten drei Stiche, dann empfindet der Arzt nur noch Frust, Ärger, ist vielleicht wütend auf mich und muss sich um sein angeschlagenes Ego scheren. Viel zu oft exakt so abgelaufen. Ich bin egal. Zudem ich den Schmerz nicht als solchen wahrnehme, wenn ich ihn nicht sogar genieße, ihn brauche. Aber zum Glück kann man mir zumindest nicht vorwerfen aus diesem Grund auch noch schuld an der Situation zu sein. Und als ich die Klinge noch einmal wendete und die letzte unverbrauchte Kante in meine Haut rammte, zitierte ich im Kopf immer und immer wieder denselben Satz: „Sie wollen das Kortison doch nur unbedingt haben, weil sie sich danach psychisch besser fühlen!!!“. Wenn ich mich recht entsinne, der Chef der Station. Ist es zum Lachen oder zum Heulen? Und heute? Drüben im Aufenthaltsraum? Wieder so ein brutaler Trampel der keine Rücksicht darauf nimmt, ob alles und jeder die Wunden sehen kann? Ganz nach dem Motto: Du hast es getan, nun bade die Konsequenzen mal schön selbst aus! Jüngere Ärzte gehen sensibler mit dem Thema um als ältere. Meistens. Aber ist nicht auch das egal? Ich bin es doch gar nicht wert! Und selbst schuld! Dreck! Das entstandene Vakuum wird ausreichen, um meine Mutter heute ertragen zu können. Wie kann ich es wagen sie wegzustoßen, wenn sie doch nur immer das Beste für mich will? Doch der Kopfschmerz ist ein ziemlich eindeutiges Indiz dafür heute in den gereizten Zustand überzugehen. Werde ich sie wieder verletzen, auflaufen lassen, ungewollt, weil ich einfach so nicht anders kann? Werde ICH mich wieder hassen, mich schlecht fühlen, werde mich bestrafen müssen? Und alles eigentlich nur weil die Grenzen, die doch allen Sicherheit geben sollen, missachtet werden. Immer und immer wieder. Was wäre denn so schlimm daran, wenn ich mich dann Ende nächster Woche wieder melde, zurück auf dem Weg ins „normale“ Leben? WAS ist denn so verwerflich daran??? Sie gibt so unendlich viel, und merkt nicht dass sie dabei eigentlich alles nimmt. Sollte ich das Telefon wieder abstellen und auf dem Anrufbeantworter um Rücksichtnahmen bitten? Um die Grenze auch für sie noch einmal klar verständlich nachzuzeichnen? Warum ist das alles so schwer? Ist es denn nicht auch ohne diese Randbedingungen schon Last genug? Meine Bestrafung muss härter sein, scheint mir. Meine Mutter sagt, sie müsse immer alles abfangen. Darf deswegen nie sagen, was ich denke, nie das fordern, was mir wirklich helfen würde? Weil sie doch zu schwach für die Wahrheit wäre?
Es wird hell. Ich muss noch die Blutreste vom Arm waschen…
Vormittag

 


25. Januar, Sonntag 6:15

Widerwärtiges Mondgesicht, der Körper aufgedunsen wie nach einer dreiwöchigen Cremetortenkur. Geplant war der Einsatz des Furosemid erst nach Abschluss der Therapie, zumal sich die Inkontinenz gestern etwas verschärfte. Die Schwester auf der Station kennt mich mittlerweile zu gut und begann ein Armbad vorzubereiten, als ich das Vorhandensein eines Venflons negierte. Ich sprach jedoch die zwei Tage zuvor am Bein entdeckte Vene an und ob man das nicht lieber drüben in der Ambulanz auf einer der Untersuchungsliegen machen sollte. Auch der Entdecker dieser Vene hatte Dienst und lächelte wieder. Ich musste mich nicht entblößen, außer meine stoppelig behaarte Läuferwade. Sebastian schob bei der Hinfahrt den geistreichen Kommentar, dass er als Arzt auch keine Rücksicht nehmen würde wenn er einen Patienten mit solchen Armen stechen müsste. „Ich würde mir denken, dass er doch will, dass man es sieht.“. Ich war gekränkt und sprach das Thema bei der Heimfahrt nochmals an. „Sag mal denkst du ich mache das, damit irgendjemand was zu sehen hat? Ganz nach dem Motto: Da! Schaut her wie schlecht es mir geht! Würde ich dann nicht gleich mit kurzen Ärmeln gehen? Glaubst du das von mir“. Sein Tonfall nun ganz anders:  „Nein, ich kenne dich lange genug um zu wissen, das dem nicht so ist.“. Und ich versuchte ihm klar zu machen wie tragisch es eigentlich ist, wenn du dann noch so plump und gedankenlos abgefertigt wirst und letztendlich deine Ahnung, dass du wertlos bist, nicht eindeutiger bestätigt werden kann und man sich wie Dreck fühlt. Ich erzählte auch vom Telefonat, und warum ich ausrasten musste. Dann ging es mir besser. Bereit, bei meiner Mutter vorbeizufahren um ihr zu sagen, dass sie bitte nicht vorbeikommen soll, ich nicht in der Verfassung bin Besuch zu empfangen. Und nochmals der Hinweis NICHT anzurufen. Aufs Neue wurde wieder großzügig und in allumfassendem Verständnis zugestimmt. Sie stellte ein paar Fragen, die erneut zeigten dass sie überhaupt keine Ahnung von diesem Zustand hat, auf die ich aber auch nicht mehr antworten wollte noch konnte, um den Irrglauben zu beseitigen. Zu Hause sprach ich einen neuen Text auf den Anrufbeantworter: „Ich bin im Moment wieder in Therapie und brauche dringend Ruhe, das Telefon ist deswegen aus. Danke!“, machte das Mobilteil aus und stellte es fatalerweise wieder auf die Station, wodurch es wohl erneut anging. Dann schlüpfte ich in meine Laufsachen und rannte los. Die Beine butterweich und ich doch vom Kortison ganz schön getrieben und schnell. Aus eigentlich 2, dann 3, wurden 4km. Wieder zurück putzte ich noch einmal kurz durchs Erdgeschoss während ich Sebastian zum Geschirrspülen verdonnerte. Das war nun wieder dieser Moment, vor dem mich meine Neurologin eingängig gewarnt hatte: „Aber nicht übertreiben! Das Kortison verleitet zu Fehleinschätzungen!“. Ich weiß, aber der Ruhe und des Friedens willen. Und wer hätte das gedacht? Es klingelte. Noch war ich ruhig, ging nicht ran. Sebastian hörte die Ansage ab, wieder meine Mutter, aber diesmal wollte sie etwas von ihm. Fadenscheiniger Grund. Er vergaß den Anruf, ich nicht und die Unruhe machte ich fast wahnsinnig. „Wenn ich dich nun bitte sie anzurufen, damit ich wieder zu Ruhe komme, ist das dann nicht total krank?“. Er rief an, Sebastian sprach sehr abgehakt und leicht entnervt, was mich noch unruhiger machte. Am Ende fragte sie wieder nach mir. Sie glaubt tatsächlich dass ich sie und auch sonst niemanden sehen will, weil ich „müde“ sei. Ist dies einfacher zu verdauen als die Tatsache, dass ihre Gegenwart in diesem Zustand unerträglich ist? Du bist so schlecht!!! Ich weiß. Und das Spannungsgefühl in den Beinen stieg und stieg, die Medikamente bewirkten nichts. Ich hatte fast das Gefühl, dass mit jeder Tablette mehr sich die Angelegenheit noch verschlechterte. Erst Lioreal, dann zwei Stunden später Sirdalud. Dafür, dem Gefühl mit Zappeln entgegenzuwirken, waren die Beine zu schwach, wie gelähmt. Aber wie gnädig, ich durfte schlafen. Bis 2, dann war ich wach bis 4 und schlief wieder ein. Um in 10-minütigen Abständen aufzuwachen und auf den Wecker zu starren. Trotz allem schaffte es dieser, mich klingelnd um 6 aus dem Bett zu werfen. Mein Körper fühlt sich heute noch beschissener an und ich torkelte und wankte gen Bad, auf die Waage, um mich dem Desaster zu stellen, nur den Blick in den Spiegel wagte ich nicht. Doch er kommt bald, zwangsläufig, und so wie sich mein Gesicht anfühlt, sehe ich heute noch widerlicher aus. Einziger Trost: Wir entdeckten gestern neben dem Parkscheinautomaten ein Zettelchen auf dem geschrieben stand, dass man mit Behindertenausweis gratis parkt. Das probiere ich heute doch prompt aus und erspare mir unnötige Meter.


26. Januar, Montagnachmittag

Ich kann mich nicht spüren, fühle nur den Schmerz in meinem Bein. Es krampft und krampft und all die Medikamente scheinen dieser Spastik nicht gewachsen. Die Therapie wurde gestern abgebrochen, ich als „unstechbar“  deklariert und nach Hause geschickt. Noch mehr Angst, dass vielleicht doch diese zwei fehlenden Einheiten das Zünglein an der Waage hätten sein können. Wer weiß. Warten, Zittern, Beben, schwer Atmen und dazwischen das Bedürfnis endlich zu sterben. Ein neues Bild beginnen. Immer wieder mit mir und dem Verletzungsgedanken kämpfen. Und ich werde diese Leinwand noch aufgrund ihrer Größe verfluchen.


27. Januar, Dienstag 8:00

Wieder ein schmerzhaftes Erwachen. Da ist es, dieses beschissene Wort, und es tut wie immer das, was es am besten kann: Wiederholen. Und das Eintreten dieser Tatsache ins Bewusstsein, lässt mein Leben noch überflüssiger erscheinen. Zum Glück regnet es, ich kann im Moment auch gar nicht ans Laufen denken. Zur Spastik gesellt sich eine Kribbelparästhesie, fühlt sich an, als würden die Muskelfasern in den Beinen eine Revolte planen. Das Bild ist groß, verdammt groß und die Befürchtung zu scheitern, ist angesichts der Maße berechtigt. Wird es wieder eines dieser Kampfbilder, das mich durch alle möglichen Gefühlszustände jagt? Hass, Frust, Freude, Trauer. Im Moment jagen sich nur Fine und Martha durch den Flur ins Atelier, kratzen wortwörtlich die Kurve und dann wieder raus in den Flur. So viel Unruhe am Morgen, doch ich bin verhältnismäßig ruhig. Wieder fühle ich mich ganz weit weg von meinem Leben vor der Kortisontherapie. Das Zurückkehren in die Arbeit und mein Laufen scheint mir eine übermächtige Anstrengung zu sein. Es macht Angst. Noch mehr, dass es mir absolut egal zu sein scheint. Erst mal Tee trinken, den Tag irgendwie in eine minimalistische Planung zwängen und dazwischen Malen. Fraglich wie lange es heute dauert, bis meine Augen versagen.
Nachmittag

 


28. Januar, Mittwoch 7:45

Die Tage laufen seit Therapieende immer gleich ab: Um 19:00 breche ich förmlich zusammen, schlafe ein, um dann ab Mitternacht jede Seite meines Körpers mehrfach als Liegefläche auszutesten. Ist es das Sirdalud? Erst nehme ich eine, es stellt sich keine Wirkung ein, dann zwei Stunden später eine Zweite, und ich muss immer noch überlegen ob sich nun etwas im Bein entspannt oder nicht. Ist die Tatsache, dass man dieses Medikament noch viel höher dosieren kann, ein Trost, wenn es mich doch schon derart aus den Latschen haut? Und was hilft die Müdigkeit, wenn ich dann doch wieder wach liege und das Bein erneut krampft. Lagebericht: Keine Besserung, von Verschlechterung muss die Rede sein. Als sei ein Held losgezogen mit seinem Schwert, hätte etwas Rotes erspäht, es als Teufel ausgemacht, zugestochen und erst dann bemerkt, dass dies grade mal der kleine Zeh des Monstrums war, welches nun erst recht rasend wird. Im Schneetreiben war ich losgezogen um mich selbst auszuprobieren. Ich wäre heulend zusammengekracht, wäre mir nicht alles so scheiß egal. Ich hatte unendlich viele Tiefschläge, hab schon einiges verloren. Doch das hier ist nun wie befürchtet von der Qualität, dass es meinem Willen zu laufen das Wasser reichen kann. Was helfen der eiserne Wille und die Bereitschaft über Leichen zu gehen, wenn das Bein einfach nicht mehr gehorcht? Ich würde gerne sagen, dass ich Angst habe. Doch diese Gleichgültigkeit schließt mich komplett ein und ich vermag nicht über die Tragweite dieser Verschlechterung der Verschlechterung nachzudenken. Vielleicht ist es besser so? Spüre nur den Schmerz im Bein. Doch selbst das führt zu keinerlei Regung in mir. Ich bin tot.


29. Januar, Donnerstag 7:30

Es hat geschneit und geschneit, Laufversuche scheinen unter diesen Umständen noch sinn- und hoffnungsloser. Sogar in meinem Traum tauchte Strunz im Rollstuhl auf. Erst abends, als das Bild fertig war, bekam ich so eine Ahnung davon, was mir nun für ein gewaltiger Kampf bevorsteht. Wieder musste eine Leinwand mich selbst über mein Innenleben aufklären. Bedenklich. Und dann kamen die Tränen, unbemerkt und still gingen sie dahin. Denn ich habe mich ja im Griff. Die Ausfälle werden massiver und massiver. Ich bereue es mittlerweile doch noch eine Therapie versucht zu haben, der Dämon nun wahrlich erst recht wütend gemacht. Vielleicht… Ja, vielleicht beruhigt sich nach dem Höhepunkt wieder alles. Es war vor der Therapie nur halb so dramatisch. Ich bin zuletzt doch noch irgendwie 8km gelaufen. Jetzt scheinen 3 viel zu viel. Eigentlich jeder einzelne Schritt. Wieder denke ich darüber nach was wäre, wenn nun die Apokalypse eintritt, doch ich vermag immer noch nicht weiterzukommen. Wieder kotzen? Mich wieder aufschlitzen? Endlich krepieren? Was, wenn die neue Dauertherapie zu spät kommt? Was, wenn alles verloren ist? Und für mich ist der Verlust des Laufens „alles“. „Frau Samer, Sie müssen aber auch sehen, dass obwohl immer Aktivitäten im Gehirn waren, sie immer noch gehen können.“, wieder hatte sie es gesagt. Als hätte ich mir angemaßt, mein „Leid“ mit dem eines andren zu vergleichen, als hätte ich meine Situation überdramatisiert dargestellt, als hätte ich gejammert, mich beschwert. ICH habe hart dafür trainiert, bin über Blut und Schmerz gegangen, IMMER und IMMER wieder. Bin hingefallen und wieder aufgestanden. Ist das nichts wert? Ist das Dreck? Wer würde denn schon so weit gehen? Wer hätte nicht längst vor Jahren aufgegeben? Hätte ich es, würde ich auch nicht mehr gehen. Nein, aber ich soll noch dankbar sein dafür, dass mein gesamtes Lebensgefüge gleich mehrmals im Jahr komplett zerschossen wird und ich es mühevoll und teils unter Qualen, über die ich mich niemals beschwert habe, wieder zusammenpuzzeln „darf“. Mir unterhalten zu wollen, dass es mir doch fantastisch geht, einfach so, weil ich ein kleiner Glückpilz bin, ist NICHT FAIR!!! Natürlich hätte es mich schlimmer treffen können, ich habe aber auch nie behauptet, dass mein Abbau der Verfall schlecht hin ist. Immer nur Tatsachen genannt. Oder soll mich diese Ansage irgendwie trösten? Ich weiß nicht so recht, bin ich wütend oder traurig? Der Tag hat die besten Voraussetzungen mich aufzufressen. Sebastian mailt aus der Firma, dass unsre Straße verhältnismäßig frei ist. Natürlich werde ich es versuchen. So wie immer. Um mir wieder anhören zu dürfen, dass es Gottgegeben ist, dass es mir noch so gut geht. Da ist kein Gott der sagt: „Probier es!“. Da ist nur mein Wille, oder eben auch Sturheit. Scheiß egal.

 


30. Januar, Freitagmorgen

Verlust in Portionen. Meine Mutter hatte wieder angerufen, das Telefon blinkte. Ich rief zurück und es war beinahe amüsant als sie meinte den Abstand, den ich bräuchte, komplett zu achten und zu tolerieren. Witzig? Absurd? Traurig? Die Umklammerung wurde zwischen den Zeilen immer wieder deutlich, doch sie tat mir leid. Es tat mir leid. Und eigentlich konnte ich nicht. Mir war nicht nach Sprechen, nicht nach Zuhören. Schweigen. Und wieder sah ich sie sterben. Sollte ich nicht eigentlich mein eigenes Dasein sterben sehen und darum trauern? Ein Zustand dazwischen. Wieder Abschiedabende im Schnee, rosa und blaue Wolkenbänder über den erstarrten, weißen Hügeln. Und ich denke, ich sollte endlich gehen. Wieder. Oder jetzt erst recht. Es macht doch alles keinen Sinn. Wieder und wieder und wieder. Da sein einfach nur des Daseins wegen? Für wen lebe ich? Für mich oder für alle andern? Immer weniger für mich. Ich weiß im Moment nicht ob ich es nochmals wage, ein erneutes Scheitern hinnehmen, verkraften kann. Das Bein krampft immer noch, keine Veränderung. Doch ich durfte die erste Nacht wieder einigermaßen ruhig schlafen. Das Kortison aus dem Körper ausgeschwemmt mit Litern Tee und Entwässerungstabletten, das Gewicht verhältnismäßig tief und bereit, nach dem Absetzen der Tabletten zu explodieren. Warum klammere ich so an das Laufen? Laufen ist Leben, ist der Garant, normal essen zu „dürfen“. Ist Ausgleich, Ruhepol, das letzte Stück Bewegung und das allerletzte Indiz dafür, dass ich noch am Leben bin. Wie könnte ich es da einfach aufgeben? Warum mich nicht gleich im Klo runterspülen, wie schon so oft? Mein Leben kann sich selbst nicht leiden.
Ob ich es verdient habe oder nicht, ob ich nicht besser doch nichts verschwenden sollte –heute wird eingekauft. Neue Pinsel, Farbe, Leinwände. Mir EINMAL etwas gönnen, den Geizkragen, der sich Sparfuchs schimpft, runterwürgen. Und doch bleibt über all dem die Frage: Für was oder wen überhaupt noch irgendetwas tun? Bin ich depressiv? Alles erscheint wertlos, sinnlos, vergeudet.

Warum kann ich nicht einfach gehen? Warum darf ich nicht?...

 Vormittag

Ein inneres Lächeln aufsetzen, mir das Gefühl im Bein schönreden und loslaufen, nachdem ich unsre Einfahrt runtergestolpert war. „Sei optimistisch!“, rotiert es durch meinen Schädel, während ich versuche dem Seitenstechen entgegen zu atmen. Ich laufe, laufe an der 1,5km –Marke vorbei, will heute 4 versuchen, mache bei 2km eine Kehrtwendung und renne zurück. Das Bein lässt sich immer weniger kontrollieren, fängt an sich querzustellen. Aufrecht halte ich mich nur noch über eine gewisse Geschwindigkeit, langsamer würde das Bein in sich zusammensinken und ich stürzen. Ich laufe und versuche immer noch das Positive in jedem Schritt zu erahnen, während mir die Tränen über die kalten Wangen laufen. Die Schwäche wird stärker und stärker, wird zur Lähmung und die letzten Meter bis zu Einfahrt humple ich nur noch. Dann stehen. Das Bein gibt einfach nach, keine Spannung mehr. Totalausfall. Kralle die ohnehin schwache linke Hand in den Oberschenkel und hieve das Bein Schritt für Schritt hoch. Dann kann ich nicht mehr, mir bleibt die Luft weg. Nun kommt all das zu Tage, was ich zu kaschieren suchte. Breche auf der Treppe vorm Haus weinend zusammen. Da ist es, das Wissen, und auch die Ahnung darüber, wie es weiter gehen wird. Mit der Faust auf meinen Kopf einzuprügeln hilft nur für den Moment der Verzweiflung. Ich bin verzweifelt, aber darf ich das nicht sein? Muss ich mich ständig mit irgendjemandem messen, der das alles viel leichter wegsteckt? Muss mich dafür rechtfertigen, dass es für mich der Weltuntergang ist nicht mehr laufen zu können? MUSS ICH DAS??? Muss mir beschissene Sätze anhören wie: „Das ist eben so!“, „Damit musst du dich abfinden.“, „Andre müssen das auch, denen geht’s viel schlechter!“. Zähle ICH als eigenständige Person, mit all dem was mich ausmacht, NICHTS? Bin ich so wertlos? Und habe ich nicht das Recht zu sagen, dass ich das hier nicht einfach hinnehmen werde? Dreck, du bist einfach NUR Dreck! Ein wertloser Versager!

 


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