VErfall, Krankenhauslivebericht, Danach -Kortisonstoßtherapie bei MS Schub 2007

 

19. November 2007, Montagvormittag

Erste Anzeichen von Drehschwindel, immer wieder versagt die Muskulatur in den Beinen, ständiges Wegknicken der Knie. Laufen scheint in Vergessenheit geraten. Ich bin verunsichert, ob ich nun im Krankenhaus anrufe oder nicht. Hat die Erkältung einen Schub provoziert oder sind es Nebenwirkungen des Tetrazepam? Wieder wünsche ich mir nichts sehnlicher als dass es ordentlich kracht und ich mich nicht länger mit Zweifeln rumschlagen muss. Wäre da nicht der Husten, ich würde wieder mit dem Laufen beginnen und könnte nach ein paar Tagen eindeutig sagen, ob es mein Dachschaden ist oder nicht.
Es ist nebelig, grau und der Schnee schmilzt dahin wie eine Illusion. Und da keimt der Gedanke in mir auf, es doch mit Laufen zu versuchen…

Nachmittag

Ich bin so unglücklich, so traurig. Warum? Der Anblick der Reste des gestrigen Gemetzels macht mich zornig. Ist es der graue Himmel? Ist es die Frustration, dass ich mit meinem Kleid in einer Sackgasse gelandet bin? Gestern schon verbrachte ich den gesamten Tag an der Nähmaschine, doch statt Fortschritte zu verzeichnen, machte ich nur Rückschritte und war mehr mit Auftrennen als mit Zusammennähen zu Gange. Und nun komm ich nicht mehr weiter, woher soll ich auch wissen wie das funktioniert. Ja, da ist Frust, aber das ist nicht alles. Der Lauf war erst sehr anstrengend und ich verunsichert. Doch das Tempo stieg mit jedem Meter. Doch danach… Danach schmerzhafte Kribbelparästhesien und auch Schwächeschmerz. Und doch keine Antworten.
Ich bin unglücklich. Mir ist nach Heulen. Was willst du??? Die Klinge?? Ich fühle nur ernüchternde Erkenntnis, dass alles vergebens ist und dass nichts diese Leere in mir auffüllen kann. Nichts. Vor der Glotze versauern und mir noch überflüssiger vorkommen.


20. November, Dienstagnachmittag

Ich weine. Ich weine schon seit ich widerwillig aus dem Bett gekrochen kam. Ich musste beim Laufen weinen. Weine beim Anblick des grauen Himmels, mir kommen die Tränen wenn ich die Leere in mir fühle, die Schuld, dass ich mein Umfeld vernachlässige. Ich hatte den Plan, nach dem Essen spazieren zu gehen und meine alte Nachbarin zu besuchen. Doch ich kann nicht. Ich weinte vor dem Lauf und musste mich aufschlitzen. Mit dem brennenden Schmerz im Gepäck rannte ich los. Die Musik wetterte durch meinen Körper und die Tränen liefen meine eiskalten Wangen hinab. Auch jetzt beim Fernsehen muss ich Heulen. Das Thema „Bulimie“ bringt mich zum Heulen. Schon als ich heute Morgen wieder auf der Waage stand, fühlte ich sie. Dieses schreckliche Gewicht, diese Unförmigkeit und diese verfluchte Leere und alles was ich mache und lasse ist für’n ARSCH!!!! Die Leere ist so präsent, dass sie mich erdrückt. Ich kann nicht mehr. Ich will auch gar nicht mehr.

Depressiver Totalausfall. Das Funktionieren fällt mir schwer. Und mir ist so kalt, als würde ich innerlich erfrieren, während der Heizstrahler meine Lippen längst wieder aufspringen lässt. Wohin? Wo soll ich noch hin? In was mich flüchten? Bei dem Gedanken an Verletzung fühle ich nichts. Und dieses Nichts tut weh, denn so bin ich vollends verloren und allein. Allein und einsam. Mit mir selbst einsamer als jemals zuvor.
Die Kälte in mir ist erfrierender als die Kälte draußen vorm Haus. Und es ist genauso wie vor 4 oder 5 Jahren… Die Erinnerungen schmerzen, das gefühlte Loch wird noch größer. Mich zwingen und zu Maria gehen? Und dann? Schweigend in ihrer kleinen Bauernküche sitzen? Ist es das wert, nur um diese Portion Schuldgefühle abzuarbeiten?

Spätnachmittag

Ich habe mich zusammengerissen, oder wie immer man das auch nennen will, und marschierte zu meiner Wahloma. Dort musste ich leider das erfahren, wovor ich seit Einzug in unser Haus Angst hatte: Unsren neuen Nachbarn reicht es wohl nicht, ein Haus gekauft zu haben, denn nun wollen sie auf der Gegenüberseite noch ein Haus hinscheißen.

Ich fühlte plötzlich neben der Leere noch einen Klotz im Hals. Nun ist mir nicht mehr nach Weinen. Mir ist nach Wundschmerz und tiefen Kerben auf den Armen. Im Waschbecken hängend den linken Arm ein zweites Mal zerschneiden. Und anschließend bluten lassen. Minutenlang immer wieder über die frischen Wunden kratzen und fühlen, wie das Blut warm und lebendig die weiße Haut hinab rinnt um kleine Blutlachen im weißen Porzellan zu hinterlassen. Es brennt und jetzt tut es gut.

Da ist Wut, Zorn und doch auch Nichts. Warum müssen Menschen immer alles kaputt machen? Ich würde mich gerne aufregen, aber ich kann nicht. Wattiges Nichts! Die Stille im Graben scheint bedroht. Ich kam zurück und beförderte mich mit gutem Gewissen zurück in den Ausgangszustand.  Ich weiß auch, dass das nicht das letzte Mal für heute sein wird, zu flach die Schnitte, als dass ich Zufriedenheit mit mir fühlen könnte. Zuwenig Härte die ich an mir selbst verübe. Mehr Wut, mehr Hass, tiefer… Ich denke das Wort, schreibe es, lese es auch und fühle wieder das massive Bedürfnis einen harten Schlag einstecken zu müssen um endlich ausgefüllt zu sein. Vor ein Auto springen? Aufs Dach klettern und mich fallen lassen? Oder doch ein Messer in meinen ausgehöhlten Bauch rammen?

Selbsthass? Ich lasse mir das Wort „Hass“ auf der Zunge zergehen. Es schmeckt wunderbar. Es klingt wohltuend in meinen Ohren. Ich bin ein schlechter Mensch. Ich bin Dreck und allein mit den spärlichen Resten meiner Würde. Die Worte sterben in meinem Mund, oder versinken einfach ungehört im Hass. Wer weiß. Auch egal…


21. November, Mittwochmorgen

Ein erneuter Amtsgang steht bevor. Heute die Amtsärztin und die Frage ob ich mehr Geld bekommen könnte. Scheiß egal, ich bin scheiß egal und mir ist erneut schlecht. 5 oder 6 Mal die Klinge mit der ungestümen linken Hand tief in den rechten Arm sinken lassen. Wieder Hass.

Nachmittag

WARUM? WARUM ALL DIESE LÜGEN? Reicht es denn nicht??? WARUM???
Ich bin Dreck, meiner mickrigen Freiheit nun vollends beraubt. DRECK!!!! Dreck! Dreck!!!!

Meine Aggressionen nicht im Griff ging ich dann noch auf Klaus los, weil er wieder ohrenbetäubend und gellend kreischte wie ein abgestochenes Schwein.

DRECK!!! Du aggressives MONSTER!!! ICH HAASSSEEE DIICHH!!!!!!!!!!!!!!!

Lügen und Verleugnen. Du ABSCHAUM!!!!

Warum????  Einmal aufschlitzen. Der Boden des Eimers beinahe komplett mit Blut und Tränen bedeckt. Warum??? Warum nur? Warum reicht nicht, was ich tagtäglich „ertragen“ muss? Warum? Warum habe ich meine Wut nicht mehr im Griff und trage sie nach Außen?

Warum fordert man von mir, dass ich lüge? Ich VERABSCHEUE Lügen!!! Doch das ist egal. „Da müssen wir durch!“. Von wegen… Ich ertrage es nicht!!!!
Ein zweites Mal aufschlitzen..

 

Niemand hört mich weinen. Niemand sieht mein Blut. Rinnsale auf kalter, blasser Haut. Entweder Glotze oder Computer. Ich bin allein. Und ich hasse mich. Und die widerliche Schlampe grinst immer noch! SCHEISS FUNKTIONIEREN! ICH HASSE MICH! ICH HASSE MICH! ICH HASSE MICH, ABGRUNDTIEF!!!!!!!!
Einsam und verloren…

Tiefe Kerben, links und rechts. 50 oder 70. Klaffende Schnitte auf den Handbeugen über den Pulsadern. FEIGLING!!! Es wurden Fragen zu meiner Bulimie gestellt. Nach dem Essen war mir dann wirklich nach Kotzen. Doch nicht das Essen ist das Problem, ICH bin das Problem und ICH sollte mich im Klo runterspülen. Wertlos. Ich bin wertlos, warum sonst müsste ich lügen? Weil ich es so wie ich nun mal bin NICHT wert bin. Nur alles retuschierendes Grinsen und Schweigen. Wer glaubt, mich zu kennen, irrt.

Halt mich, ich flehe dich an, halte mich… Bitte…


22. November, Donnerstagmorgen

Ich fiel und er war da. Ich flennte, schrie, heulte, warf mit Sachen um die letzten Reste Zorn aus mir rauszuholen und eindrucksvoll zu unterstreichen, wie scheiße es mir eigentlich geht. Danach war wieder Nichts in mir. Tote Leere. Aber zumindest tat sie nicht mehr weh. Heute mit dem Auto zur Therapie und dann wieder nach Hause laufen. Mit Mütze und dicken Sachen mich sozusagen vermummen damit man mich im besten Falle nicht erkennt auf den zwei Kilometern durch Jennersdorf. Ist das bescheuert? Aber was bleibt mir übrig?

Abend

Mich schon mal vom Geschmacksinn verabschieden. Morgen um 8 in Oberwart antanzen. „Letztendlich liegt die Entscheidung, ob die Kortison bekommen, bei Ihnen. Wenn der Leidensdruck so groß ist, ist das überhaupt kein Problem.“. Der Spaziergang am Nachmittag bestätigte mich nur in meinem Vorhaben, morgen in der Neuro vorstellig zu werden. Bereits 200m waren zu viel, ganz zu Schweigen vom Lauf nach der Sitzung nach Hause. Wieder ganz viel Hoffnung in die Therapie stecken. Wieder bei Null beginnen. Wieder ein Neustart, das System wird sozusagen wieder neu hochgefahren. An all die Nebenwirkungen mag ich im Moment noch nicht denken. Das kommt dann, wenn ich mittendrin stecke…


23. November, Freitagvormittag

Die Hinfahrt im Sonnenaufgang war voller Tränen. Gibt es so etwas wie eine übersteigerte Empathie? Eine tote Katze auf der linken Straßenseite, ein Kreuz mit Kerzen und Blumen zur Rechten.

8:00 Uhr: Ich bin da und das zu erwartende Drama nimmt seinen Lauf. Dieses Mal gehe ich mit einem hohen Ärzteverschleiß an den Start. Eine blonde Ärztin mit einem Stich. Eine schwarzhaarige mit einem Stich, die sich über die exakte Symmetrie der dunkellila unterlaufenen Kerben auf meinen Armen wundert, genau so wie darüber, dass trotz Rechtshändertums beide Arme zerschnitten sind. Und zu guterletzt ein junger Arzt, der sich von Schwester Elisabeth gehetzt fühlt, es aber mit viel Geduld und Pfeifen zu einem Zugang rechts und einer Blutabnahme links schafft. Letzteres war keine Glanzleistung, er nahm die Blutproben arteriell ab. Ein pochender, dumpfer Schmerz zieht sich nun den gesamten Arm hoch bis in die Armbeuge. Ich werfe wie gehabt mit dämlichen, aufgesetzten Bemerkungen um mich. Ich gehe mir selbst auf den Senkel. Die Prozedur dauerte 1 Stunde.

9:30 Uhr: Die Untersuchung steht an. Es sprudelt nur so aus mir heraus, dass das Thema Laufen für mich der Grund ist zu glauben, dass es ein Schub ist und dass das aber nicht im Befund angesprochen werden darf wegen den ganzen Pflegegeldanträgen und dass ich es leid bin zu lügen und ich sie nicht auch noch betrügen will. Sie will sich mit der Psychiatrie in Verbindung setzen, da es nicht sein kann, dass ich keinen Zuschuss für meine Psychotherapie bekomme.

Dann Warten. Ich rutsche auf dem Stuhl hin und her, meine Stimmung plötzlich von aufgesetztem Grinsen in tiefe Ernsthaftigkeit abgerutscht. Die Ewigkeit hat mich wieder. Und ich muss wieder über meine Wertlosigkeit nachdenken und versuche diese mit Bleistift auf Skizzenpapier zu bannen.

 

 

Eine Dame von der Psychiatrie kommt und gibt mir Konstruktionen wohin ich mich nun wenden müsste. Wieder in die Bezirkshauptmannschaft? Ich könnte kotzen…

10:20 Uhr: Endlich komm ich an die Flasche und der Zugang funktioniert einwandfrei.

10:45 Uhr und der Geschmacksinn verabschiedet sich soeben.

Es ist mir egal, ob ich beobachtet werde, weil ich hier mit meinem Notebook hocke. Die letzten Reste Aufmerksamkeit habe ich unter den Kopfhörern versteckt und gebe mir mit lauter und vor allem böser Musik die Kante. Will nicht mehr reden, nicht mehr lachen müssen. Als mir bewusst wurde, dass ich es schon wieder tue, also schon wieder in einen funktionierenden Zustand kippe nur um meinem Umfeld ein gutes Gefühl zu geben, fühlte ich mich schrecklich. Schäbig, dreckig und verlogen. Mir ist ÜBERHAUPT nicht nach Witzen, mir ist nach Heulen, nach Aufschlitzen. Zwei Gesichter und ich kenne mich immer noch nicht. Welches ist echt?

Der Hunger geht allmählich in Übelkeit über, die Flasche halb leer. Wieder Leere und Nichts in mir. Eine versteinerte Miene, die jeglichen Kontakt im Keim ersticken lassen muss. Besser so.

67min und fertig.


24. November, Samstag Vormittag

Gestern Abend unnötiges Angezicke, ich ging ins Bett und musste mich erden. Mit pochendem Arm unter die Decke und ich konnte erst einschlafen als Sebastian später ins Bett gekrochen kam. Als ich dann heute losfuhr, sah ich die angekündigte Jagdgesellschaft bei meiner Mutter in den Wald latschen. In lustiger Wellenschrift in Regenbogenfarben stand auf der Tafel am Straßenrand „Vorsicht! Treibjagd!“ zu lesen. Und wie sie da alle mit ihren komplett unausgelasteten und vor allem unerzogenen Töhlen  und ihren umgeklappten Knarren in den Wald marschierten… Bäh! Zum Kotzen. Und zur Straßenlage gibt es nur soviel zu sagen: Es gab wohl Valium oder wahlweise Speed zum Frühstück. In Kukmirn fuhren wir –also das Auto vor mir und ich im Schlepptau- in der Ortschaft brav mit 50 an einer Polizeikontrolle vorbei. Kaum war diese außer Reichweite bremste sie plötzlich unverhofft, griff zum Handy und begann zu telefonieren, um sodann mit 30km/h weiterzufahren. Dann außerhalb der Ortschaft in der 70er fuhr sie immer noch 40 und ich betete, als wir auf die nächste Kreuzung zufuhren, nur, dass sie Rechts blinken würde. Blöde Kuh. Und zum Speed gab’s wieder so ne Story wie bereits gestern. Obwohl die Speedstory heraufbeschworen wurde von einer weiteren Valiumbegebenheit. Wieder eine Kolonne, wie bereits gestern. Vor uns ein quietschgelber Flitzer, der es vorzog IMMER mindestens 30km/h langsamer zu fahren, als angegeben. Und dann wieder ein Überholer. Tja, wenn ich nicht wie immer brav einen Sicherheitsabstand einhalten würde und gestern wie heute den rasenden Hirnies mit meiner großen Lücke zum Vordermann Zuflucht bieten würde, dann hätte es wohl gekracht.

Naja, ich bin da, hänge, da der Venflon kooperierfreudig ist und kann mich wieder dem Desaster auf meiner Homepage widmen…

Allein in der Ambulanz, wieder in der Kinderecke, diesmal aber auf einem winzigen Kinderstuhl, da dieser eine bessere Arbeitsmöglichkeit bietet als die Bank, die höher ist als der Tisch.

 

66min und fertig!

Abend

Ganz viel Rumärgern mit der Homepage, bzw. mit Frontpage. Einen gesamten Nachmittag lang. Wie nervend und vor allem Rücken verspannend. Auf dem Kortisonhoch ist das zwar beinahe nicht zu ertragen, da die Stimmung nur noch von Gereizt bis Heulen reicht. Aber immerhin ist es dem Kortisonhoch auch zu verdanken, dass es überhaupt leistbar ist. Abgesehen davon, dass ich wieder in einer Tour am Plappern bin. Meine Wangen glühen wieder.


25. November, Sonntag Vormittag

Wach um 4, aufgestanden um halb 5 und dann bis halb 6 an die Nähmaschine, zwei Nadeln über den Jordan befördern und die Freude über die enger genähte Hose währte nur kurz, da sie nach kurzem Tragen wieder zu rutschen begann. Frust. Weinend E-Mails beantworten, Tränen vertuschend am Frühstückstisch sitzen. Gestern aggressiv und gereizt, heute weinerlich. Aber ist es nicht schon seit Tagen so?
Irgendwo vor dem 8. von 10 zu durchquerenden Dörfern bis nach Oberwart, taucht ein hutfreier Hütchenfahrer vor mir auf, der nur das eine Ziel erfolgt, mich die folgenden 15 Kilometer schleichend zur Weißglut zu bringen. In der Ortschaft 40km/h, in der 70er 50km/h, in den 100er 60-70km/h. Und natürlich hat er sich die Passage der Strecke ausgewählt, auf der ein adäquates Überholen NICHT möglich ist. Auf dem letzten Stück, wo sich die Straße bergauf in zwei Spuren teilt, gab der Arsch natürlich Gas und ich kämpfte mit meinem 50PS-Untersatz um jeden Millimeter um ihn zu überholen. Oben angekommen hatte ich ihn ENDLICH hinter mir. Doch der Kracher kam erst: Als ich im Krankenhaus im Erdgeschoss aus dem Klo kam und in den Lift einstieg, tat selbiges ein Mann, der aussah wie mein Valiumfreund von vorhin. Ich fühlte Mordgelüste, aber drosselte mich und beließ es bei eiskaltem Ignorieren. Was hat er gemacht? Die Messe gehört? Zum Glück bin nicht ich Urheber folgender, aber zutreffenden Aussage: „Steirischer Sauschädel!“. Was Besseres fiel mir nach 20 Minuten hinterher Kriechen und ständig auf das Feldbacher Kennzeichen Starren, nicht mehr ein…

Egal, angekommen, mit glühroter Birne, die Flasche hängt seit etwa 10:50 und der Venflon macht eindeutig klar, dass er heute entfernt werden möchte. Wieder Schleichen…


Seit einer Stunde hänge ich an der mickrigen 250ml Flasche, habe erst die Hälfte und versuche mir ein Bild aus dem Hirn zu saugen. Doch da ist nichts, und alles was ich beginne, misslingt. Zum Kotzen!

 

 

2 Stunden. Ächz.

 

Willkommen im Atom-, äh BETONpilz

 

Zigaretten am Eingang ablegen, Onkologie ist im 1. Stock

 

Am Fuße des Atompilzes: Abzocke

 


26. November, Montag nach 9 Uhr

Wie lange hat er gesucht? Eine halbe Stunde? Länger? Drei Stiche insgesamt. Wieder Blutabnahme, da meine Werte vom Freitag sehr schlecht waren. Es wird noch eine Besprechung folgen, und vielleicht eine Erklärung gefunden, warum dem so ist. Seit 4 bin ich wach, seit viertel 6 auf den Beinen. Herzrasen, Unruhe, Übelkeit. Mal sehen, was der Tag bringt bzw. wie lange er dauert. Ich bin so müde…

Fallenlassen und zerbrechen

 

Nachmittag

„Es könnte von einem viralen Infekt sein. Es handelt sich um Eisenmangel.“.

„Könnte es auch das Ritzen sein?“.

Ernste Blicke.

„Kommt es so häufig vor?“.

„Naja, täglich locker zwischen 10 bis 100ml Blut.“.

Noch mehr ernste Blicke. Genau so gut wie ein Ja als Antwort.

 

Ich male mir aus, wie es wäre meinen Körper zerschmettert auf dem Boden liegen zu sehen. Oder mit einem Messer im Bauch. Hohl, tot und leer. An diesem Punkt der Kortisontheraphie gibt es nichts mehr zu sagen. Bin da und doch nicht. Wieder aufschlitzen…?


Als würde ich in Zeitlupe durch das Jetzt wandern. Ich bin so unendlich langsam, die Welt rast an mir vorbei. Was ist echt und was ist nur Trugbild? Kann mich des Eindrucks nicht verwähren, dass ich schleichend einer Illusion auf der Spur bin. Langsam. Meine Worte fließen langsam, meine Bewegungen sind langsam und unsicher. Bin müde und will doch nicht zur Ruhe kommen. Den aufgeschnittenen Arm mit zitternden und kalten Fingern mit Küchenrolle einwickeln und diese mit Klebeband auf der Haut befestigen. Was bist du???? Warum tust du das??? Warum? Warum nur?... Will kein Mitleid. Will wohl auch nicht Aufmerksamkeit erregen. Will mich verstehen. Und scheitere…
Die Sonne scheint und warme Lichtstrahlen fallen durch die Terrassentüren auf meinen erstarrten Körper. Mich finden, in dem ich andere mit meinen Wunden konfrontiere, sie sozusagen zum Hinsehen zwinge. Doch was ändert es? Keiner sieht mich weinen und keiner sieht mich bluten. Doch die Illusion, dass sich etwas ändert wenn sich daran etwas ändert, ist längst zerplatzt. Andere damit zu konfrontieren und mir eine Plattform zu geben, auf der ich mich mit mir selbst konfrontieren kann, auch nur ein sinnloses Unterfangen.
Es ist egal, ich bin egal. Also ist es mir auch egal, was andre denken. Sollen sie weiterhin glauben, ich sei auf der Suche nach Aufmerksamkeit. Doch mir dämmert allmählich, dass es die ersten Anzeichen einer bröckelnden Fassade sind. Will dieses Schauspiel nicht länger aufrechterhalten müssen. Wenn sich das Grinsen schon nicht von meinem Gesicht kratzen lässt, wenn sich die überflüssigen Kommentare nicht runterwürgen lassen... Mein Gesicht… Verlogen. Puppenhaft. Wie das Antlitz einer Puppe vom Sperrmüll. Die Puppe schütteln und beuteln und so zum Heulen bringen. Schwester Hedi sagte noch: „Wenn der Venflon weh tut, rausziehen und was draufdrücken. ….Aber bitte, bitte keinen Unfug machen damit…?“, und sie umschloss meinen Arm vorsichtig und doch haltend mit ihrer Hand. „Was soll ich schon anstellen… das blutet doch ohnehin nicht.“. Ein eingängiger, besorgter Blick und die vorsichtige und genauso besorgte Abschlussbemerkung: „Aber ich will doch, dass du morgen wieder kommst…“.

Alle machen sich Sorgen. Alle machen sich Gedanken. Vielleicht doch nicht so geblendet von meinem alles retuschierenden Sarkasmus. Nur ich bin mir egal. Ich kenne mich nicht, ich mag mich nicht und weiß somit eigentlich auch gar nicht was ich an mir nicht mag. Bin ich es wert?

Muss und will allein sein und fürchte doch nichts mehr als das Verlassenwerden und die Einsamkeit...

 

Spätnachmittag

Warten und Frieren. Böse, kranke Musik hören und ins Nichts starren. Immer wieder ein Stückchen Schokolade in den Mund schieben, dessen süße Explosion schlagartig mit dem Beginn des Schmelzens in einen bitteren und salzigen Geschmack übergeht. Scheiß Kortison. Bekomme nichts andres runter als trockene Brötchen und Schokolade. Wieder Panik vor dem Zunehmen. So ein Mumpitz! Wegen einem Tag an dem ich mir eine Tafel gönne? Ich hasse mich! Die Sonne geht unter, Landschaftssilhouette und Himmel brechen in knalligem Orange auseinander. Der Tag verblutet und stirbt. Es gibt nichts zu sagen und doch ringe ich um Worte. Stille Tränen im Abendrot.


27. November, Dienstag 9:00

Der neue Tag wurde geboren wie schon der gestrige dahingeschieden war. Ein blutrotes Inferno über den Weiten des Lafnitztales. Stille Tränen kullern über die leichenblassen Wangen bei Tempo 100.

 

 

Ein neuer Tag, ein neues Venendrama und noch eine Blutabnahme, um dem Desaster auf den Grund zu gehen. Mein gesamter Körper zittert wie Espenlaub. Er schiebt den Ärmel hoch und mein Kommentar zu den tiefroten Schnitten fällt wie folgt aus, schlicht, prägnant und doch alles umfassend: „Ich bin mein treuester Feind…“.

Die Annahme, langsam und schleichend zu verbluten, ohne daran zu Grunde zu gehen, bringt mich durcheinander. Ich wünsche mir schon, dass es so ist.

Aus dem Spiegel in der Toilette starrt mich wieder dieses tote Puppengesicht an. Tot, sind doch die erröteten Wangen nur aufgemalt und auch nur Produkt einer Lüge. „Was willst du von mir?“. Starr, wortlos. Tot eben.

 

Starren auf die Skizze. Krank.  Der Anblick drängt eine entscheidende Frage auf: „Was um Himmels Willen geht nur in dir ab?!!!“.

Spätnachmittag

Allein in meinem stinkenden, klammen und düstren Loch. Die Nebelkrähen ziehen am abendlichen Himmel vorüber und ich frage mich, ob sie in den Wolken hängen bleiben könnten. Ich bin so allein, ich erfriere. Und doch ist es MEINE Hölle. Und jeder der die Vermutung äußert, mich im Ansatz verstehen zu können, lügt. Wer es nicht schon einmal durchgemacht hat, ist unwissend. In diesem katastrophalen Grundzustand in einen absoluten Ausnahmezustand katapultiert. Der Tod ist mir so nah. Der Gedanke, warum ich ihn nicht gewähren ließ als er mich heute Morgen fragte, beschäftigt mich immer noch. Warum bin ich noch hier? Warum bin ich so einsam? Warum scheint die Welt ihr Gesicht abzuwenden oder in ihrer getriebenen Geschwindigkeit an mir spurlos vorüber zu ziehen? Ich will schreien! Will mich massakrieren! Die Maske vom Gesicht reißen und blutend hinausrennen! Vor ein Auto springen! Antworten suchen und vielleicht ein Ende finden.
Soll ich mich aufschlitzen? Kalkulierend die Spuren nicht verwischen um ENDLICH erhört zu werden? Niemand sieht mich weinen, niemand sieht mich bluten und NIEMAND hört meine verzweifelten Schreie.

Warum ist niemand da und schüttelt diese beschissene Puppe? Warum ist niemand da und hört dem Drecksding zu? Ich sehe mich sterben, tausende Tode. Und es ist tröstlicher als der Gedanke, in den Arm genommen zu werden.

Bei dem Gedanken an meine Eltern fühle ich Unwohlsein, Ekel bei dem Gedanken an ihre Art von Trost. Bei dem Gedanken an meine Liebe alles verschlingenden Alltagstrott, Überforderung und schützende Gleichgültigkeit. Ich bin egal. Ich muss wertlos sein. „Zurück auf den Müll, fleckiges und Leben heuchelndes Puppengesicht!“. Kleine Signale und Hilferufe bleiben ungehört. Mir die beschissenen Augen aus dem Kopf heulen. Sterben wollen und es doch sein lassen. „Es geht weiter…!“. Diese beschissenen Floskeln hatten auch schon einen besseren Klang. Ich ertrage niemanden. Ich ertrage nicht, so allein gelassen zu werden. Ich signalisiere nach Außen hin Stärke. Ich BIN NICHT STARK!!!! Ich grenze mich ab um mein Umfeld vor mir zu schützen. Ich grenze mich ab, denn es ist MEINE HÖLLE. Und NIEMAND darf sie mir nehmen. Niemand wird sie verstehen, denn niemand ist wie ich. Bin ich doch auch nicht wie andre. Doch genau das ist die Art von Trost die mir zuteil wird. Danke, ich passe!
Warum hört man mir nicht einfach zu? Ist still? Ohne jeglichen Vergleich ziehen zu müssen? Vergleiche sind bröckelnde Steine, und nicht geschlagene Brücken. Warum? Warum? Mir ist danach, eine Überdosis Mirtazapin zu schlucken. Mir ist danach mir noch mehr zu schaden. Ich muss mich abstellen. Warum tu ich es nicht? Warum bin ich noch da? Stirb doch!!! STIRB, MISTSTÜCK, STIRB!!!!!!!

Für was oder wen funktioniere ich noch? Meine Gedanken bekommen ein Gesicht. Und selbst würde ich sie in die Welt hinausschreien…. Sinnlos.
Ich bin zerbrochen. Doch man sieht es mir immer noch nicht an. Niemand sieht mich weinen. Welchen Unterschied macht es noch, ob ich hier sitze oder draußen in meinem Blut ertrinke und erstarre? Niemand sieht mich weinen und das Schlimmste ist: Niemand weint mit mir. Niemand weint um mich. Ich bin es nicht wert.

Katastrophaler Ausnahmezustand. Verbarrikadiert die Höllenpforte. Das hier ist echt… Doch sobald er mit dem Alltag ins Haus einbricht wie ein alles überfordernder Sturm, werde auch ich wieder funktionieren. Und mich selbst auf's Neue zutiefst verraten....

Angst vor dem Moment, wenn das Licht angeht. Angst davor, wenn der Fernseher und der Computer angeschmissen werden. Angst vor all den überflüssigen Fragen wie „Hast du dich hingelegt?“ oder „Waren die Katzen artig?“. Unwichtige Fragen, deren Beantwortung keinen Sinn macht. Die Antworten sind blass, Alltag und ohne Belang für den Fragenden. Warum werden nie die richtigen Fragen gestellt?


30. November, Freitag Vormittag

All das, was mich gestern noch bewegte, all die Verletzungen aus der Kindheit, scheinen heute mit dem Zusammentreffen mit meinen Eltern, die doch wieder nur das Beste für mich wollen, belanglos. Als sei es nur eine Fantasie, der ich auf den Leim gegangen bin. Ich fühle mich strukturlos, haltlos, ohne Belang. Im Moment dreht sich wieder alles um Geld. Über 800€ für die Therapie, an die 500€ für die Autoversicherung und beinahe 300€ Landgeld. Mir ist nach Kotzen. Und ich weiß nicht warum ich meinen Eltern von meinen Geldsorgen erzähle. Ich WILL kein Geld von ihnen. Ein mulmiges Gefühl entsteht im Bauch, als würde ich mich kaufen lassen. Eine Art Ablasshandel, der mir dann verbietet Dinge in der Vergangenheit zu kritisieren, die mich zu dem haben werden lassen, was ich nun bin. Ist wahrlich alles nur noch zum Kotzen. Und sie meinen es wahrlich nur gut mit mir und bemühen sich redlich. Was da entsteht ist wohl ein Gefühl von Schäbigkeit und Undankbarkeit.

Und um mir den Tag komplett zu versauen, stellte ich mich der Waage und meinem Gewicht, in freudiger Erwartung einer weiteren Katastrophe. Doch sie trat nicht ein. Im Gegenteil; ich habe sogar etwas abgenommen. Ich würde mich gerne freuen, doch es fühlt sich im Moment nur so an, als würde mein Körper sich selbst verdauen. Und an dem Punkt des Entzugs ist alles egal. Auch die Therapie ist egal, auch wenn sie gestern noch so immens aufrührte und bewegte. Ich stelle mir so Fragen, ob es in Anbetracht der zu verplempernden Geldsummen, überhaupt einen Sinn macht. Ich frage mich, ob ich mir nicht alles nur einbilde. Scheiß Kortison…


 

1. Dezember 2007, Samstag Nachmittag

Die Sonne versinkt hinter der Hügelkette im Westen, Martha schläft selig auf der Bank vor der Terrassentür und die Stille im Raum heilt etwas. Der Lauf tat ungemein gut, mit jedem Schritt fühlte ich wie meine Seele wieder aufatmen kann. Wie immer sind da noch Symptome, die typisch für den Kortisonentzug sind. Starke Muskelschmerzen, Schwindel, schlecht Sehen und so weiter und so fort. Zum Glück kehrt mein Geschmackssinn wieder, was mich aber zugleich in die nächste Kacke befördert. Wieder habe ich massiv Angst davor zuzunehmen und nette Worte habe ich im Laufe des Tages auch keine für mich gefunden. Nur Beschimpfungen der derbsten Sorte. Trotz monströs erscheinendem Geldfiasko habe ich mir gestern doch etwas gegönnt: Einen großen, rustikalen Holztisch samt Bank. Diese sollen das Zentrum des neuen Ateliers bilden, in dem sich sonst nur noch das Klavier und ein Regal befinden. Leer. Leer muss der Raum sein. Leer und frei, damit ich darin arbeiten kann. Das Umgestalten und Umräumen der letzten Tage, auch wenn es viel zu anstrengend war, entspricht nur der Unruhe in mir, die durch das Kortison ausgelöst wurde. Es hat sich viel bewegt und genau so viel verändert.

Mir wurde beim Rumräumen bewusst, was ich bereits alles aufgegeben habe, bzw. gezwungen war, aufzugeben. Der Garten sieht nur noch schäbig aus, die Hochbeete fallen auseinander. Aber ich kann nicht. Auch das Spazierengehen ist längst kein Bestandteil meines Lebens mehr. Schleichend hat es sich sozusagen davongemacht. Alles wirkt einfach nur noch zu viel, mehrere Schuhnummern zu groß für mich. Ich schaffe einfach so vieles nicht mehr. Drum war das Räumen auch wichtig, da ich mich von belastenden Altlasten trennen konnte. Sehr vieles macht mir schon nur beim drüber Nachdenken Angst und überfordert mich.

Sehr vieles ist gestorben. Und ich musste mich heute tatsächlich zwingen, einen Lauf zu wagen. Ginge ich dem Gefühl in mir nach, würde diesem gerecht werden… Ja, dann wäre das Laufen auch längst gestorben. Und was bleibt dann noch? Was bleibt von mir übrig?


 

2. Dezember, Sonntag Nachmittag

Ich lief los, der Brustkorb so massiv zugeschnürt und am Schmerzen, dass ich kaum Luft bekam und die laute, böse Musik peitschte meinen kaputten Körper voran. Bei dem 2km-Streckenposten hielt ich inne und ich verlor die Fassung. Die Kehle zugeschnürt, heiße Tränen auf eiskalten Wangen. Nein, es ist nicht gut. Und da war sie wieder, diese hinterhältige Angst, dass nun Schluss ist, dass hier und jetzt mein Leben als solches sein Ende nimmt. Es prasselte plötzlich nur so auf mich ein, all die Dinge, die verloren sind, all die Fähigkeiten die gestorben sind. Selbst beim Laufen hat sich der Tod eingeschlichen, selbst die letzte Bastion ist längst am Bröckeln.
Mein Körper streikt, versagt total, kann jetzt nicht mehr gerade stehen noch gehen. Massivere Ausfälle als vor der Therapie. Auf den letzten Metern hielt ich alle paar Sekunden inne. Die Kotze hing mir im Hals, die Augen ertranken in Tränen, alles krümmte sich und ich begann zu hyperventilieren…

Bin ich wütend? Bin ich verzweifelt? Weil ich kämpfe und doch nur noch aufgeben will…?

 

Spätnachmittag

Ich fühlte mich schrecklich, wie eine Bombe kurz vor der Detonation. Ein Kurzausflug zum Weichnachtsmarkt sollte Abhilfe schaffen. Angekommen im Chaos, im Lärm, war ich vollends überfordert. Mit mir stimmt etwas nicht, denn seit geraumer Zeit vermag ich Informationen nicht mehr als solche aufzunehmen, sie kommen nur in Form von Erinnerungen in meinem Gehirn an. Ein Dauerdejavue sozusagen. Verwirrend und entwurzelnd. Und soeben habe ich mich, um dem Tag endgültig die Krone aufzusetzen, übergeben. Ich fühle mich fett und hässlich, ich HASSE mich und meinen beschissenen Versagerkörper und meinen Willen, der zu schwach ist um zu widerstehen. Da ist noch zuviel in meinem Bauch…

Wenn die Verletzung ihren erlösenden Aspekt nicht verloren hätte, wäre mein Körper längst nicht mehr sicher vor mir. Aber warum auch Erlösung suchen… Selbstbestrafung tut es auch!

Ein scheiß Tag, ohne Struktur, ohne Ziel und ohne Erfolgserlebnis. Einfach nur stinkendes Nichts und Frustration.

Ein zweites Mal übergeben. Die ganze Scheiße und all das, was da an dreckigem Leben in mir ist, aus mir rauswürgen. Im Spiegel schwarze Ringe unter den Augen und blaue Lippen in blassem Gesicht. „Ich hasse dich!!!!“ und „Blöde Schlampe! Krepier endlich!“. „Stück Dreck, taugst nicht mal als Inventar im Leben anderer… wertloser Haufen Lebensreste!“. Würde es reichen, mich „nur“ zu beschimpfen…

Wäre ich bloß allein. Allein mit mir selbst. Mir selbst ausgeliefert und niemandem eine Rechenschaft schuldig dafür, was ich mir selbst antue…

Das Geld reicht vorn und hinten nicht. Das Gefühl von Wertlosigkeit gewinnt erneut an Macht. Ich breche auseinander, ich zerlege mich in meine Einzelteile, denn auch das was mich als Realität umgibt, geht den Bach runter, in Milliarden schneidenden Scherben. Nichts ist echt und ich muss wohl verrückt sein! Und bei dem Gedanken an morgen, an einen weiteren Tag der sich jetzt im Voraus bereits katastrophal und unstrukturierbar anfühlt, kommt mir erneut die Kotze hoch und da ist so was ähnliches wie Hilflosigkeit.


 

3. Dezember, Montag Morgen
1:35, ich schlug die Augen auf und das Stundenzählen nahm seinen Lauf. „Ausgespucktes Elend!“. In der Dunkelheit und Stille ist der Bezug zur Realität nicht mal mehr zu erahnen. Und dann viel zu früh aufgestanden. Wie schön, mein Gewicht liegt im grünen Bereich. Wiederauferstehung des Gelegenheitsbulimiker? Praktisch. Kleine Handgriffe werden bedingt durch meine Unfähigkeit, Gegenstände sicher festzuhalten, zu großen. Die volle Müslidose landet auf dem Boden und statt Frühstück gibt’s Putzen. Die Körperspannung geht nach kurzem flöten, Torkeln und Gangbildstörung stehen auf dem Programm. „Und du willst heute wieder laufen? HA!“. Ich versuche immer noch dem neuen Tag ein Antlitz zu geben, eine Struktur an die ich mich klammern kann. Aber ich scheitere…
Beinahe 10°C und ein ekelhafter Fönwind peitscht ums Haus und der graue Himmel bricht im Süden nur sporadisch auf. Die Ziegen langweilen sich, aber ich komme schon mit mir selbst nicht klar. Was tun? Lebenszeit absitzen? Mich hassen? Aufschlitzen?


Kochen und Haushalt, alles scheint heute schief zu laufen und ich explodiere fast vor Jähzorn. Mit Gabeln und Messern schmeißen dämpft die hassroten Gefühle in mir wohl kaum. Und wieder regnet es. Will etwas kaputt machen. Nur was? Da ist doch nichts außer mir. Also warum sollte ich es nicht sein? Was macht mich so wütend? Die Schwäche, die nicht gehen will? Ungleichgewicht ist noch eine Verniedlichung dessen, was gerade in mir abgeht. Ich könnte die Musik auch runterdrehen, könnte die Richtung etwas entschärfen. Aber ich will nicht, selbst wenn es den Grundzustand nur noch verschärft. Will und muss in diesen Hassgefühlen aufgehen. Egal mit welchem Ende. Wieder frage ich mich, warum ich mich nicht wieder mit einer Überdosis abschieße… Warum nur?

Mich hassen

Mich bluten lassen

STIRB!

…bis der Lappen mit Blut getränkt ist, ein tiefes Aufatmen durch den Körper fährt und ich wieder funktioniere…


 

4. Dezember, Dienstag Morgen
Ballern um 7 Uhr morgens- fällt das nicht unter Ruhestörung? Der  Schlaf war definitiv dahin, egal wie kuschelig es auch im Bett war, während durch das offene Fenster frostige Minusgrade ins düstre Schlafzimmer krochen. Zudem hatte Sebastian als er gegangen war Fine vor die Tür gesetzt und ich machte mir doch so meine Sorgen. Außerdem konnte ich ja nicht ausschließen, dass der Arsch WIEDER auf unser Grundstück latscht und das wollte ich in dem Falle nicht verpassen. Ich führte eine kurze Diskussion mit mir selbst und kam am Ende zu dem Schluss, doch wieder täglich auf die Waage zu steigen um wenigstens etwas Routine und Kontrolle über mein Leben zu bekommen. Immer noch die magische 4 nach der 6, die mir den Tag versüßt.
Der gestrige Lauf war erneut eine Katastrophe, doch ich schaffte es bis nach Jennersdorf. Nun sind meine Muskeln steinhart und schmerzen dementsprechend. Aber damit kann ich eher leben als mit dem Umstand, dass meine Beine unter mir wegknicken. Es ist zwar sehr früh, doch im Moment habe ich noch unzählige Pläne, die die Angst vor dem Tag etwas mildern.

Wieder bereitet mir die detaillierte Aufschlüsselung meines Webseitencounters so einige Magenschmerzen. Sucheingaben wie „kotzen dünn sein“ oder „nehme ich gewicht ab wenn ich mich erbreche“ sind wohl Indiz dafür wie gefährlich meine Seiten sein können. Und ich möchte schreien: „UM HIMMELS WILLEN!!!! LASST ES SEIN!!!! WERFT EUCH NICHT WEG! Bitte…“. Aber würde das was ändern?

Ich muss auch wieder über die Therapie am Donnerstag nachdenken. Ich fühle einen unwahrscheinlichen Widerwillen, der sich vermutlich im Geldfiasko begründet. Und auch irgendwie das Bedürfnis, nichts zu ändern. Hätte sie mir nur monatlich die Rechnungen gegeben und nicht 3 auf einmal am Jahresende, an dem ohnehin wie gewöhnlich alle möglichen Zahlungen zusammenkommen.

Abend
Ich lief los, hielt kurz vor Jennersdorf an und unterhielt mich mit einem Bekannten. Da kam er, der Henndorfer Jagdleiter, und fragte, ob ich kurz Zeit hätte. Meine Mutter hatte ja in letzter Zeit wahrlich alle möglichen Jäger angesprochen, dass sie nicht einfach auf mein Grundstück latschen können. Eigentlich mochte ich ihn… eigentlich. Das Gespräch lief ÜBERHAUPT nicht produktiv, denn trotz aller Erklärungen meinerseits, kam mir KEIN Verständnis entgegen und eigentlich lachte er mich auch nur am laufenden Band aus.
Ich sagte, dass ich einfach krank bin und keinen Nerv dafür habe, dass meine Privatsphäre verletzt wird. 100 m ums Haus sind für mich Garten. Ich soll dafür Verständnis haben, weil sie ja den Jagdschilling bezahlten und somit „meinen“ das Recht zu haben, überall hingehen zu können. Aber dafür Verständnis, dass ich krank bin und mich das nervlich total runterzieht, gab es nicht. „Wir sind nicht schuld, dass du krank bist.“ Und „wenn du bei mir langgehst und auf den grünen Streifen vor meinem Zaun steigst, beschwer ich mich auch nicht!“. Das Gegenargument, dass der Streifen der Gemeinde gehört und nicht ihm und ich ja auch nicht über seinen Zaun klettere, rein in seinen Garten, fruchtete Null. Entweder aus Sturheit oder einfach aus Blödheit. „Die Leute freuen sich überall wenn wir Jagd haben… Dann gehen wir da lang und winken und die Leute winken zurück!“. WER mag die Jäger? ICH kenne NIEMANDEN!!!!
Und? Bin ich schuld, dass sie viel Geld bezahlen um jagen zu können?
Zu meiner Beschwerde, dass es schon Flurschaden ist, dass sie nach Umbaggern des Grundstückes einfach die Schräghänge hoch stapften, entgegnete er. „ ACH! So schwer sind wir doch gar nicht!“ und „Wir werden schon kein kleines Pflänzchen zertrampelt haben!“.
Dazu, dass sie immer direkt vorm Haus unsrer Nachbarn stehen und ballern, sagte er: „Ja, aber die Emma stört das nicht!“. PAH, die ist ja auch im Winter NIE da und 20m weiter steht unser Haus.
Zum Abschluss sagte er noch hämisch lachend: „Nächsten Sonntag ist Jagd. Wenn es knallt, brauchst du keine Angst haben, das sind nuuuuur wir und wir werden schauen, dass wir JAAA keinen Millimeter zu weit auf dein Grundstück steigen!“.
Da war noch viel mehr an unlogischen Bemerkungen, aber wenn ich sie mir wieder ins Gedächtnis rufe, rege ich mich nur noch wieder so unnötig auf. Ich hatte wirklich versucht, mich zu erklären. Aber angekommen ist NICHTS. Als ich mich wieder meinem Bekannten zuwandte und er mich darauf hinwies, dass der Jäger wirklich SEHR VIEL gelacht hatte, wurde mir erst bewusst, dass er mich wirklich NICHT ernst genommen hat. Eigentlich wurde mein Bild von der Jägerschaft nur noch gefestigt. Und der Glaube, dass sie gemocht und gebraucht werden, ist ein Irrglaube. Na Hauptsache, sie haben sich untereinander lieb.

Mir ist nach Kotzen. Die Tatsache, nicht ernst genommen zu werden, nicht mal im Ansatz, verstärkt das Gefühl, wertlos zu sein.


 

5. Dezember, Mittwoch 6 Uhr

Wenn das geliebte Dorf zum Feind wird…

Ich ertrug das Durcheinander in mir gestern Abend nicht mehr. Ich hätte alles Mögliche anstellen können, doch ich entschied mich für eine Tasse Kakao mit einem fetten Schuss Likör, was mich leicht angeschwipst in den Abend gehen ließ. Im Bett war die Müdigkeit plötzlich verflogen und in meinem Schädel ratterte es wieder. Rechtfertigungen und Erklärungen überschlugen sich förmlich. Irgendwann schlief ich dann doch ein, um mich alsbald in einem Alptraum wieder zu finden: Wir fuhren die Straße nach Hause und immer wieder tauchte aus dem Bachergraben ein junger Mann auf, der zielstrebig die Straße vor dem Auto überquerte und dann genau so plötzlich im Erlendickicht wieder verschwand. Er hatte keine Augen, er hatte kein Gesicht, es schien, als wären da nur Haare einmal rund um den Kopf. Es machte mir Angst, ich wachte um halb 5 auf um sofort wieder über das gestrige Gespräch nachzudenken. Und da war plötzlich nicht nur Angst, da war Panik, Angstschweiß und eine unerträgliche Unruhe. Drum bin ich also schon wach. Ich fühle mich plötzlich im Haus nicht mehr sicher, fühle mich beobachtet. Wer weiß was den Idioten einfällt, einfach nur um mich noch mehr zu verspotten. Für alle gilt die Unantastbarkeit der eigenen Privatsphäre. Allem Anschein nach nur für mich nicht. Ich bin immer noch Gasthausinventar, ein Gegenstand, nicht mehr, den man anfassen, benutzen und missbrauchen kann. Ich bin es wirklich nicht wert.

Und nun? Meine Augen brennen, der Brotbackautomat hat aufgehört laut quietschend den Vollkornbrotteig zu kneten, die Katzen bekamen Platzverweis und machen soeben den Garten unsicher und ich? Ich überlege, ob ich morgen sage, dass ich die Therapie fürs Erste abbrechen möchte und muss. Ich habe noch keine der drei Honorarnoten bezahlt und mir graut jetzt schon davor, das Sparkonto zu plündern. Aus den Gedanken und Überlegungen wächst allmählich Überzeugung. Ich habe aber auch das Bedürfnis mich bei irgendjemandem auszuheulen. Verbündete gibt es hier im Graben genug. Manchmal glaube ich, die wenigen Stimmen für die Grünen stammen aus dem Bachergraben.

Vormittag

Zu früh aufgestanden, zu viel Zeit gehabt und meine Energie, die ich eigentlich gleich für den Lauf bräuchte, in Putzen verschwendet. Resultat: Massive Gangbildstörung und fehlende Körperspannung. War es das wert? Nur um die Zeit totzuschlagen?

Nachmittag

Ich bin total durcheinander. Der Lauf war erneut eine Katastrophe. Ich versuchte die Schmerzen in den Waden bei jedem Schritt und das massive Stechen im Brustkorb beim Atmen mir einfach wegzudenken. Was bleibt dann übrig? Taube Fußsohlen und eine alles zerstörende Schwäche. Hat die Therapie doch nicht angeschlagen? Nach dem Essen war meine Mutter kurz da und ich schilderte ihr mein „Gespräch“ mit dem Jagdleiter. Sie hat sich zudem informiert zum Thema finanzielle Unterschützung bei der Psychotherapie. Sieht schlecht aus, dennoch soll ich Freitagvormittag in der BH antanzen. Na toll. Und am Nachmittag nochmals zum Psychosozialen Dienst. Morgen die Therapie…

Ich mir sperrt sich mittlerweile ALLES. Ich kann und will nicht mehr!!! Bei dem Gedanken, jede der einzelne Stellen abklappern zu müssen, wird mir wieder speiübel.  Ich weiß nicht was ich will. Wahrscheinlich einfach nur in Ruhe gelassen werden. Solange das mit der Gangbildstörung vorerst nicht wieder Geschichte ist, kann und will ich an nichts anderes denken. Es belastet mich zu stark, als dass ich mich um andre Baustellen kümmern könnte und der Kampf kostet zu viel Energie. Eigentlich brauche ich die gesamte Energie, die mir zur Verfügung steht um daran zu arbeiten. Ich will keine Therapie mehr, will kein Geld mehr ausgeben müssen, das ich ohnehin nicht hab.

Wahrlich, ich könnte kotzen und belasse es einfach dabei, meinen rechten Arm aufzuschlitzen. Ich kann nicht mehr….

Einmal… Ein zweites Mal und sicher nicht das letzte Mal für diesen beschissenen Tag. Sehe mein Gesicht im Spiegel und ertrage es nicht. Ich hasse mich.


 

6. Dezember, Donnerstag Morgen

Wieder Kalorienzählen? Wieder Kotzen? Mein Gewicht steigt wieder schleichend und Kotzen habe ich mir ohnehin längst als Überlebensplan für die fetten Tage bereitgelegt. Was hatte ich gehofft? Hatte ich tatsächlich geglaubt, das erhungerte Gewicht halten zu können? Es ist doch scheiß egal was ich mache, ich bin und bleibe FETT. Egal ob genascht wird oder, wie eben die letzten Tage, nicht. Trotz Kohlenhydratarmer Kost am Abend, trotz gesundem Essen, zuckerfrei und fettarm. Es ist und bleibt SCHEISSEGAL. Nach dem Bad noch dein drittes Mal aufschlitzen während Sebastian in der Wanne war und ich allein im Wohnzimmer hockte. Nein, ich mag mich nicht und der Umstand, dass ich mich wieder der bösen 66 annähre, macht mich rasend. „Fettes Schwein, aufgeblasen, hässlich und unfähig sich zu bewegen!“. Und bei dem Gedanken, um 9 zur Therapie zu erscheinen, dreht sich erneut mein Magen um. Bei dem Gedanken, dann nach Hause laufen zu müssen, werden meine Knie ganz weich und die Angst, dass ich die Strecke, die so herum gelaufen immer leicht bergan geht, nicht schaffe, ist mehr als berechtigt. Meine Tasche ist schon gepackt: Leerer Geldbeutel, der dicke Brief mit den Rechnungen und alles, was ich fürs Laufen brauche. In mir will wieder irgendetwas die Hoffnung nicht aufgeben und kommt mir mit so guten Ratschlägen wie „Kartoffelkur“ und „Entwässern“. Und ein andres Teufelchen sagt mir, ich solle in der Apotheke nach entwässernden Tabletten nachfragen und Geld ausgeben, das ich nicht hab, für etwas, was wahrscheinlich auch wieder nur Quatsch ist. Meine Heilkräuter sind fast alle wirkungslos, da ich dieses Jahr keine neuen gesammelt habe und lediglich aus Faulheit oder Nostalgie die vom letzten Jahr noch rum stehen hab. Ich habe auch keine Lust auf bitteren Tee, kann ich doch seit nun fast zwei Monaten auch keinen Grüntee mehr trinken.

Eine Amsel taucht auf der Terrasse direkt vor der Tür auf. Es dämmert und der Himmel scheint heute klar zu werden. Vielleicht sollte ich wirklich früher losfahren, vorher alles an Einkäufen erledigen, bevor ich hier wieder versauere und Unfug treibe.

 

Nachmittag

Ich stand im Garten und ich fühlte mich unwohl. Da kam mir der Gedanke, den Gemüsegarten aufzugeben. Aufgeben, wie auch vieles andere in meinem Leben. Ich schaffe es nicht mehr. Am liebsten würde ich den Zaun abreißen und die Beete dem Erdboden gleich machen. Immer noch wirkt um mich rum alles so unordentlich und schlampig und ich fühle mich unwohl. Der Lauf nach Hause war auch eine weitere Versagensleistung meinerseits. Alles scheint im Moment ruhig und still und auch gut. Aber das Verlangen nach Verletzung ist dennoch vorhanden und unterstreicht das Gefühl, dass um mich rum Chaos herrscht, obwohl dieses eigentlich nur in mir wütet. Wäre ich nur nicht so unwahrscheinlich schwach….

Ist es Zorn? Verzweiflung? Trauer? Oder einfach nur dieses große Nichts? Ich gestatte mir nicht, glücklich zu sein, nicht fröhlich zu sein.

Das Unwohlsein aus mir rausbluten lassen? Das Durcheinander mit geradlinigen Schnitten begradigen? Die Leere aus mir raus schneiden? Ich fühle Unfähigkeit. Es gäbe so viele zu tun, doch ich kann einfach nicht. Ich werde nun aufhören nach Gründen zu suchen. Und doch lasse ich es. Warum auch immer. Ich habe das Gefühl, NICHTS zu sein, NICHTS zu bewegen und NICHTS zu fühlen. Ich weiß nicht, warum ich überhaupt schreibe, ich habe NICHTS zu sagen.

Der Abend ist schön, zu schön. Der Blick bleibt an den zartlila Wolken hängen und das Herz beginnt erneut zu bluten. Die Sonne geht unter und ich bin wie gelähmt. Karg, trist, Nichts. Schönes Leben.
Sind da Bilder in mir? Hinter all dem Schweigen und dem Nichts? Das Atelier ist immer noch leer und unfertig. „Vergiss es.“. Ja, ich Versager. Die Hundertschar von Nebelkrähen beobachten, schwarze Silhouetten auf Lila und Orange. Ich bin tot.


 

7. Dezember, Freitag Vormittag

Das Wetter ist schlecht und ich bin gut drauf, nachdem ich mir gestern Abend die Augen aus dem Kopf geheult hatte bis hin zur Migräne. Ich fand es angesichts meiner Finanzproblemchen irgendwie vermessen, als Sebastian sich nach einem neuen Fernseher umsah. Es gab die alten Grundsatzdebatten mit einem neuen Anstrich. Er hat wirklich keine Ahnung davon, was monatlich an Nebenkosten rausgeht und es ist eine Tatsache, dass ich mir außer neuen Laufschuhen zweimal im Jahr und meinen Medikamenten und Kortisontherapien eigentlich nix gönne. Ich verstehe aber auch seine Sicht der Dinge, dass er jetzt lebt. Erschreckend fand ich nur, dass er nicht mal wusste wie viel Landgeld wir zurückzubezahlen haben. „22.000.“. HA! Oder sollte ich voller Entsetzen ein „AHH!“ von mir geben? Ich bin nun mal die Tochter meines Vaters: Sparsam, vielleicht auch manchmal geizig, aber auf jeden Fall vorausschauend.

Der Termin heute Nachmittag beim PSD wird im Zeichen des Psychotherapiezuschusses stehen. Mein Tag ist durchgeplant, die Ziegen gefüttert und nun auf der Wiese zum Erlen- und Brombeerenvernichten und ich werde in einer Stunde loslaufen. Die Illusion, dass nach den starken Muskelschmerzen eine Besserung und auch Steigerung kommt, habe ich aufgegeben. Auch wenn so am Ende nur noch ein Kampf übrig bleibt: Ich laufe trotzdem.


 

9. Dezember, Sonntag Spätnachmittag

Die Jäger trieben sich gestern und auch heute unten im Graben rum. Gestern Nachmittag war das Flattern eines Fasans zu vernehmen, dann ein Knall und schon konnten wir aus dem Wohnzimmerfenster Federn vom Himmel fallen sehen, mehr oder minder direkt neben unsrer Terrasse. Als ich nach draußen kam, sah ich einen verletzten Hahn davonrennen. Erst abends entdeckten Martha und ich ihn ein paar Schritte weiter im hohen Gras vor unsrer Haustür. Ich war so zornig, so wütend auf dieses beschissene Jägerpack, ich hätte jemanden umbringen können. Den toten Vogel an den Schwanzfedern gepackt, ging ich im Dämmerlicht unsren Hohlweg hinunter und deponierte das arme Vieh auf unsrer Papiertonne direkt am Straßenrand. Und heute haben sie ihn wohl im Laufe des Tages abgeholt. Mir reichte es schon, dass ich sie unten im Graben sich über mich lustig machen hörte. Arschlöcher. Als ob das Leben nicht schon genug Kampf wäre. Immerhin haben sie sich daran gehalten und latschten dieses Jahr nicht durch unsren Garten und auch nicht unsre Zufahrt hoch. Der Elektrozaun und drei „Betreten Verboten“ –Schilder waren wohl Abschreckung genug

Und das Laufen.. Tja.. Freitags schaffte ich es sogar 6 Kilometer zu laufen. Aber mit welchem Preis und unter welchen Umständen? Der Lauf gestern stand erneut unter einem schlechten Stern und ich mir wuchs das Gefühl, dass da keine Besserung von statten ginge. Nicht für mich… Angst und Verzweiflung und weiß der Teufel was noch, doch ich hing abends wieder zweimal über dem Klo und kotzte mir das Leben aus dem Leib. Heute hatte ich mir vorgenommen, nicht zu laufen. Stattdessen wollte ich im Atelier weiterarbeiten. Doch ich war zu klein, zu schwach, zu desolat. Ich bat Sebastian um Hilfe und zog ihn letztendlich nur in meine gereizte Grundstimmung. Am Ende war ich schon so verzweifelt und aggressiv, ich beschimpfte mich und meinen scheiß Körper mit den derbsten Ausdrücken und ich schrie hysterisch, bis mir die Tränen vor Zorn in die Augen schossen. Ich versage. Ich versage auf voller Länge. Mein Körper versagt und ich HASSE mich dafür. Und diese unerträgliche Unruhe… Ich musste laufen und zwang mich dieses Mal den steilen Hang am Fuße des Hügels hoch, zum ersten Mal seit langem. Und es klappte. Ich absolvierte die 4 Kilometer verhältnismäßig reibungslos. Doch an der Angst ändert es nichts. Und Sebastian fechtet einen aussichtslosen Kampf gegen Windmühlen aus wenn er immer und immer wieder versucht mich in meinem Selbsthass zu zügeln.

 

Abend

Je mehr Fotos von mir entstehen, desto gefestigter bin ich in der Überzeugung, dass ich hässlich und fett bin. Aufgedunsenes Kortisonmonster. Widerlich.


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