VErfall, Krankenhauslivebericht, Danach -Kortisonstoßtherapie bei MS Schub 2000

 

29. Juni 2000, Donnerstagnachmittag

Seit heute Vormittag bin ich wieder im Krankenhaus. Das gesamte Personal hier sprüht nur so vor Freundlichkeit. Eigentlich bin ich ja sehr begeistert, nur habe ich Angst vor dem, was noch kommt... Die ganzen Untersuchungen, die Ergebnisse... Und vor allem davor, dass meine Zimmergenossin stirbt. Es ist wohl nicht zu übersehen, dass diese alte Frau ihrem Ende zugeht, und das macht mich doch bestürzt. Ich habe noch nie jemanden sterben sehen und ich weiß auch nicht, ob ich das überhaupt will. Kerstin, die Frau die vorhin in meinem Bett lag, hat ebenfalls MS, was für ein Zufall. Nur dieses mal war ich diejenige, die tröstet, denn sie hat ihre Diagnose jetzt erst bekommen und ihre Bestürzung klingt oft heraus und ist nicht zu überhören. Sie wartet auf den Chefarzt, dass sie nach Hause gehen kann, ich darauf, endlich zu erfahren, wie es nun weitergeht. Gehen fällt mir schon recht schwer und übel ist mir sowieso. Mein Magen ist noch ganz flau von all der Nervosität, die sich seit gestern angestaut hat.


 

30. Juni, Freitagmorgen

Mir wurde gestern noch mitgeteilt, dass mein Aufenthalt nicht wie gewohnt 6 Tage, sondern gleich 2 Wochen dauern wird. Ist wohl verständlich, dass mir das ungemein missfällt. Meine Zimmergenossin hat die ganze Nacht geröchelt, dass ich schon glaubte, wahnsinnig zu werden. Nach einer gewissen Zeit hielt ich mir die Ohren zu und kniff meine verheulten Augen zusammen. Es mag zwar selbstsüchtig und grausam klingen, aber mir wurde richtig übel von ihrem Gehuste und Gekeuche. Selbstsüchtig wohl deswegen, weil sie eigentlich bedauernswert ist und ich nur an meine Probleme denken kann. Auch jetzt hat sie wieder angefangen zu husten und das Frühstück droht mir hochzukommen. Mit jedem grausig klingenden Röchler von ihr kämpft sich mein Essen die Speiseröhre ein Stück höher. Letztendlich warte ich nur darauf, aufzuspringen und auf’s Klo zu rennen.

 

Soeben komme ich vom Brustkorbröntgen zurück. Der Zivi, der mich hin begleitet hat, wollte mir einen  Rollstuhl andrehen. Aber stur wie ich bin, beiß ich mich da durch. Nach dem Röntgen schickte mich die Radiologin zurück zur Station, nur der Zivi war nicht da. Also ging ich einfach allein. Unterwegs fragte mich eine Ärztin, wo denn der Zivi sei. Ich hoffe mal, er bekommt jetzt keinen Ärger wegen mir. Auf das bin ich nämlich nicht scharf. Na, jetzt ist es schon egal, brauch’ ich mir keine Gedanken mehr machen. Tja, wenn die sich nur so einfach abschalten ließen... Selbst bei so läppischen Kleinigkeiten...

Abend

Heute hatte ich Besuch von zwei MS-Kranken, die ich im Internet in einer MS-Mailingliste kennen gelernt habe. Nur all zu lange weilte der Besuch nicht, denn während sie da waren bekam ich meine zweite Lumbalpunktion. Dieses Mal dauerte es viel länger und schmerzte auch sehr. „Frau Samer, sie haben gerade das Härteste, was die Neurologie zu bieten hat, hinter sich gebracht!“, was für ein Trost! Zumal mir Angst und bang wurde, als der dattelgreißige Chefarzt zitternd dreimal zu stach, bis er getroffen hatte. Sebastian wollte ich auch nicht mehr loslassen, fast hätte ich geweint. Mit jedem Tropfen des Kortisons wurde mir schlechter. Und dieser widerwärtige Bleigeschmack im Mund ist auch wieder da. Ich wollte Sebastian gar nicht richtig küssen, regelrecht unangenehm war mir das. Mir ist schlecht. Gekotzt hab ich bereits. Na, mir steht noch eine tolle Zeit bevor..


 

1. Juli 2000, Samstagmorgen

Tja, die Sommerferien haben nun begonnen, ich hab nichts davon und so gesehen fehlt mir irgendetwas. Ich hab mir meine Schübe, wie’s aussieht, periodisch eingeteilt, kommt fast auf zwei Jahre genau hinaus. Geschlafen habe ich äußerst schlecht, obwohl ich schon froh war, dass die alte Dame ruhig durchgeschlafen hat und nicht, genauso wie ich, gequält wurde. Dennoch blieb der Schlaf fern. Ich musste gestern zwar öfters aufstehen um auf die Toilette zu gehen, aber die dadurch normalerweise entstehenden Kopfschmerzen halten sich in Grenzen. Ich hoffe, dass es nicht wieder so schlimm wie bei der ersten Lumbalpunktion wird. Aber wenn man vom Teufel spricht... Wärmer ist es leider auch wieder geworden, ein Grund mehr nicht gut zu schlafen. Mich würde auch nur noch interessieren, wie spät es eigentlich ist.. Ich hoffe Frühstück kommt bald, ich hab schon seit gestern schrecklichen Durst der gestillt werden will. Ich freu mich heute schon auf Sebastians Besuch, kann ich ihn wieder für ne kurze Zeit knuddeln.. Natürlich nicht so doll, denn seine Mutter kommt mit. Etwas Positives hab ich auch zu vermelden: Bis jetzt sieht es heute mit dem Gehen besser aus, hoffe ich.
Abend

Die alte Frau wurde ganz unverhofft in ein Einzelzimmer verlegt und gegen eine etwas lebendigere Frau getauscht, worüber ich natürlich mehr als erfreut bin. Meine Mutter hat mich am Telefon wieder gequält. Heute befahl sie mir, dass ich dem Arzt erzählen sollte, dass ich mit 16 einen genickstrapazierenden Reitunfall hatte und meine rechte Gesichtshälfte vorübergehend taub war (obwohl ich das in Oberwart und in Güssing schon erwähnt hatte). SIE hat nämlich eine Frau getroffen, die „natürlich“ im Rollstuhl sitzt und „natürlich“ auch mal dasselbe hatte und dadurch fortwährend Entzündungen im Gehirn bekam, und dadurch gehunfähig wurde.

WARUM, frag ich mich, WARUM kann sie meine Diagnose nicht einfach akzeptieren? WARUM macht sie das immer wieder auf’s Neue, verletzt mich und bringt mich zum Weinen? Mutterinstinkt? Wieso tut sie mir das bloß an? Wieso immer wieder? Wie oft soll ich sie denn noch darauf hinweisen, dass sie es unterlassen soll, wie eine Wahnsinnige Indizien irgendwo, und seien diese noch so irrational, auszugraben, die dann letztendlich ihrer Meinung nach gegen meine MS sprechen. Wieso kann sie es denn nicht endlich begreifen, sie hatte nun fast zwei Jahre lang Zeit dazu. Sie tut mir weh, und ich bin froh, dass sie nicht hier ist. Ich will ihre Ideen nicht mehr hören, ihre Ratschläge sind mir egal.. Es tut mir auch weh, das zu sagen, aber was dieses Thema betrifft, will ich, dass sie sich da raus hält. Es wird endlich Zeit, dass ich mein Leben vollständig in die Hände nehme. Nur wann wird sie das letztendlich akzeptieren, denn die Tatsache, dass sie meine Mutter ist, ist keine Entschuldigung.


 

4. Juli, Dienstagmorgen

Das Schreiben fällt mir immer schwerer, hingegen das „Laufen“ sieht schon wieder normaler aus. Die MRT -Bilder haben ergeben, dass Entzündungen vorhanden sind, was mich sehr beruhigte, da dies für mich nun die fixe Bestätigung meiner MS ist, selbst wenn meine Mutter es noch immer nicht schafft es zu akzeptieren und mir mit ihrem Verhalten nur weh tut. Aber das scheint ihr ja trotz mehrmaligem Erwähnens egal zu sein. Ich hab meiner Familie auch einen provokanten Brief geschrieben, in dem ich zig- tausendmal erwähne, dass ich Abstand von ihnen brauche, denn die Anrufe meiner Mutter regen mich nur auf und folglich geht’s mir schlechter. Den ganzen Abend schwirrte mir nur noch ein Gedanke durch den Kopf: ,,Du bist das Opfer! Und nicht wie du meinst, der Täter. Du bist das Kind und nicht ein Elternteil. Du bist nicht schuld dran, wie es dir geht und schon gar nicht, wie es den andren geht. Du bist das Kind und nicht zuständig für die Übernahme der Schuldigenrolle!!!“. So richtig befriedigt hat mich das nicht. Ich würde gerne irgendjemandem sagen, dass er/sie schuld ist, dass ich ihn/sie hasse. Aber auf wen würde mein anklagender Finger zeigen, hätte ich das Recht dazu? Meine Mutter war gestern wohl noch beleidigt als ich meinte, nicht mehr so oft anzurufen, da ich meine Ruhe bitter nötig hätte. Ich habe auch im Brief geschrieben, dass obwohl sie meinen, mein Leben zu finanzieren, sie noch lange nicht glauben müssen, darüber frei verfügen zu können! Manchmal komme ich mir auch vor wie eine Puppe, die hin- und hergeschubbst wird, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, ob sie irgendwo Kratzer und Beulen abbekommt. Sie spielen ihr Spiel auf Kosten meiner Seele, selbst wenn sie meinen, es im Sinne dieser zu tun. Also bin ich das Opfer und nicht der Täter. Nicht das Kind macht die Eltern kaputt, sondern andersrum. Was hätte ich schon verkehrt machen können, hab ich es doch wenigstens geschafft „Entschuldigung“ zu sagen, sogar zu meinem Vater, von dem man so was nicht zu erwarten braucht. Entschuldigung für Dinge, die ich nie falsch gemacht habe; dafür, dass ich mich verliebt habe, dafür dass ich erwachsen geworden bin und ein Stück Glück wieder gefunden habe, und manchmal bereue ich diese Entschuldigung, denn zurückgekommen ist bis jetzt noch nichts, kein Funken von Wehmut oder Schuldgefühlen... Und warum ich mir deswegen Vorwürfe machen, weiß ich nicht. Sie haben mich in die Welt gesetzt, nicht ich. Sie sind für mich verantwortlich, nicht ich. Ich bin das Kind, das Opfer, und nicht der Täter. Täter, an was schon? Soll ich mich dafür entschuldigen, dass ich krank bin? Soll ich um Verzeihung bitten, das ich es gewagt habe, das Licht der Welt zu erblicken? Manchmal habe ich das Gefühl, ich müsse es tun.. Und ich würde diese Vorwürfe gern meinem Vater entgegenschmettern ..und dann?

 

(Anmerkung am Rande: Ich habe das herrschende Schuldmißverhältniss in meiner Familie erkannt - Auf auf zur fröhlichen, wie qualvollen Schuldschieberei!!! Die Distanz zu meinen Eltern eröffnete mir den Blick auf dieses kranke System, unter dem auch mein Bruder leidet, nur auf eine andre Art. Ein System, dessen sich meine Eltern zu dem Zeitpunkt nicht mal bewusst sind, bzw. es wird noch zu einem Kampf kommen, ein Kampf um Anerkennung dessen, bzw. dem NICHT anerkennen und irgendwann zu einer Resignation, unter der alles irgendwie zu heilen scheint)

 

Ich war grad beim Wiegen. Da waren es nur noch 65kg. Wie habe ich das geschafft, so wenig hatte ich schon lange nicht mehr, ist das nun gut oder schlecht? Ich weiß noch nicht wie ich darauf reagieren soll, aber mein ess-brech-krankes Hirn sagt mir jetzt schon: ,, Du darfst nicht mehr zunehmen!!!“.
Mittag

Heute wurde ich endlich von Infusionen auf Kortisontabletten umgestellt. Trotz der 65kg fühle ich mich wie aufgequollen und verspüre den Drang zu erbrechen. Wie ich gerade eben bei einer Zwangsbegegnung mit dem Spiegel feststellen konnte, treten nun dir ersten Vorzeichen des Kortisonausschlages in Erscheinung. Ich bin ja immer noch guter Hoffnung, dass es mich dieses mal nicht wieder zu hart erwischt. Es ist doch jedes Mal ein heftiger Schlag für mein Ego, wenn ich wie eine genmanipulierte,  überreife Tomate aussehe... Mir geht es überhaupt nicht gut, so schwach habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt. Ich merke ja auch, wie ich zusehends gereizter werde. Vielleicht bin ich auch nur so angespannt, weil mich die Worte meiner Familie einfach nicht loslassen. Immer wieder aufs Neue kaue ich all die Erinnerungsbrocken durch. Kein Wunder dass mir schlecht ist.... Jetzt in diesem Moment wüsste ich nicht, was ich gerne hätte oder machen würde... Nichts ist auch keine Antwort, aber genau danach fühle ich mich: Wie ein großes, aufgeblasenes NICHTS...

Ich glaube, ich könnte jetzt nicht mal weinen, selbst wenn ich einen Anlass dazu hätte (obwohl ich doch meine, dass dieser immer anwesend ist). Nicht mal erinnern mag ich mich, weder an gute noch an schlechte Zeiten. Alles ist leer und still. Alles nicht mehr von Bedeutung. Alles zu Ende... Alles vorbei.. Ich wünschte, es wäre so, und nicht nur jetzt in diesem Augenblick...

Abend

Mit dem Rumwürgen hat es sich für heute erstmal. Nun habe ich mir noch die letzten Arzneidosis eingeworfen, was mich doch ein wenig am Kotzen hindert. Ich weiß auch nicht wo ich jetzt in diesem Moment gefühlsmäßig stehe. Satt? Hungrig? Speiübel? Ne Mischung aus allen drei Sparten. Mein Hals ist bereits gesprenkelt, auch im Gesicht geht es jetzt los, als ob sich das innerhalb von 2-3 Stunden einfach so schlagartig entwickelt hätte. Deprimiert mich ein wenig; hingegen ein wenig mehr dieses seltsame Gefühl im Bauch. Wär’ ich doch allein, könnte ich mich hemmungslos meiner Sucht hingeben, aber so? Aber was kau ich diesen Brei auch jedes Mal auf’s Neue durch? (wie treffend) Ich weiß, ich brauche Hilfe, aber ich bekomme sie hier nicht...

 


 

5. Juli, Mittwochmorgen

Nun ist es nicht mehr zu übersehen, der Kortisonkonsum hat das seine getan. Wie eine mit roten Milben gesprenkelte weiße (nein, eher vergilbte) Kalkmauer renne ich rum, und schön langsam fangen die Entzündungen an zu schmerzen. Beim Essenbestellen heute fiel es mir noch schwerer nur ein Brötchen zum Frühstück und eine Scheibe Schwarzbrot zum Abendbrot zu bestellen. Aber ich habe Angst davor, zuzunehmen. Ganz schreckliche Angst. Ist es nicht eigentlich seltsam, dass man ohne Ende Hilfe aufgezwungen bekommt, und wenn man sie dann gerne hätte, ist sie einfach nicht länger verfügbar? Ich wüsste aber auch nicht so recht etwas mit der Hilfe anzufangen, obwohl ich ja nicht mal genau weiß, wie diese aussehen soll...

Mittag

Essen, was für eine schöne und auch zugleich befriedigende Sache das sein kann... Und doch mit gar so bitterem Beigeschmack. Ich habe Angst vor dem Essen; so sehr, dass meine Hände dabei zittern. Ich habe mir Mühe gegeben, so gut wie nur möglich alles wieder raufzuholen. Ich habe mir schon mal durch den Kopf gehen lassen, wie es denn wäre, das Essen zu kauen, zu schmecken und dann den Bissen wieder ausspucken, um sich einem neuen zu widmen. Der Haken dran ist wohl, dass erst ein befriedigendes Gefühl eintritt wenn man schluckt und sich das ganze im Magen breit macht. Ich habe abgenommen, dass kann ich auch sehen. Doch mein Unterleib ist fett wie eh und je... Ich habe Angst davor, meinen Körper zu betrachten. Ich kann meinen Körper nicht akzeptieren, obwohl ich nun bald 20 Jahre damit rumrenne. Es fiel mir recht schwer mich vornüber ins Klo gebeugt auf den schwachen Beinen zu halten. Sie zittern genau wie meine Hände, vielleicht auch wie mein gesamter Körper. Was zittert nicht an mir? Nichts ist stark geblieben, mein Wille ist schon längst gebrochen... Ich fühle mich schwach, so erbärmlich... Ich möchte weinen und einschlafen... Weinen, über mich, um mich... Schlafen, ohne zu träumen, ohne zu denken... Keiner sieht meine Tränen, so wie keiner meine Träume zu sehen vermag... Gehüllt in einsames Schweigen, das mich noch ersticken wird, wenn die Zeit gekommen ist...
Abend

Ich will nicht mehr... Nicht mehr essen, nicht mehr kotzen, nicht mehr hungern...


 

7. Juli, Freitagmorgen

Ich weiß noch nicht so recht, was für ein Tag das heute werden soll. Ich bin mir über meine Gefühle noch nicht ganz im klaren. Die Sonne scheint, die Vögel zwitschern... Und irgendwie verspüre ich da eine Aufbruchstimmung, die es nicht so recht zulässt, Trübsal zu blasen. Außerdem erwarte ich ja mit großer Freude das Frühstück, der beste Start in den Tag. Nur heute erscheint mir alles etwas verlangsamt. Normalerweise herrscht hier um die Uhrzeit Hektik, doch heute lässt sich keiner so recht blicken. Ich freue mich nur schon auf das Brötchen und eine Tasse heißen Früchtetee. Ich habe auch nachgedacht, was ich ändern könnte. Doch was meine Bulimie betrifft bin ich zu keiner Lösung gekommen. Das Problem haftet an mir wie ein alter, eingetrockneter Kaugummi, der, wenn man versucht ihn abzukratzen, seinen noch weichen Kern freigibt und letztendlich an den Fingern klebt. Und sich bei jedem neuen „Trennungsversuch“ noch breiter macht. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ein paar Ausweichmanöver hätte ich auf Lager, aber das wäre dann so, als ob ich ein Stück Folie auf den Kaugummi kleben würde, also ein reiner Vertuschungs- und Ausbesserungsversuch. Von wegen abends und morgens Vitamintabletten schlucken, um dem Verlust an wichtigen Stoffen vorzubeugen. Das klingt schon fast zu perfekt um wahr zu sein. Versuchen kann ich es ja, besser als gar nichts ist es allemal. Na, jetzt werde ich erstmal frühstücken und dann kann ich ja immer noch über meinen „Kaugummi anno 1999“ grübeln.

Abend

Ich habe vor gar nicht langer Zeit eine neue Zimmergenossin bekommen, diesmal eine etwas ältere Dame, die allem Anschein nach an Gedächtnisschwund leidet. Leider hatte ich nicht die Gelegenheit meiner alten Mitstreiterin für „Recht auf keine Eier zu Mittag“ Tschüss zu sagen. Na, mal sehen, in wie weit ich mich mit der neuen Mitleidenden anfreunden kann. Aber, um mal kurz auf das Thema Eier zurückzukommen: Das ist nicht mehr witzig! Ich werde mal versuchen, mich daran zu erinnern (sonderlich schwer kann das nicht werden), wann es Ei gab, seitdem ich hier bin..

Samstag: Senfei :o(

Sonntag: Frühstücksei :o)

Montag: Rührei

Dienstag: nix Ei :o)

Mittwoch: Eierkuchen :o)

Und nun darf man dreimal raten, was es morgen Leckeres geben wird... Na? RICHTIG! Rührei, und laut Speiseplan gibt es Montag wieder Senfei. Ich krieg schon das Würgen wenn ich EI höre, lese, schmecke, rieche, was auch immer... Ich war heute wirklich bei guter Laune (naja, es gab eben kein Ei zu Mittag) und hab mir in der Cafeteria ein Eis mit ordentlich Sahne oben drauf vergönnt. Nur 5 Minuten, nachdem ich es genossen hatte, tat es mir schon leid, dass ich erneut gefrevelt hatte. Dabei denke ich nun schon den lieben langen Tag an nichts andres als Essen. Heißhunger in so viele Variationen hatte ich noch nie gleichzeitig. Mein letzter Gedanke vorm Schlafen gehen gehört dem Essen, angefangen von Schoko, bis Pizza, Döner, Salat, Hamburger.. Und ehrlich gesagt, hab ich auch genau deswegen Angst wieder raus zu kommen. Hier kann ich nun mal nicht sagen: Jetzt will ich was essen! Was gewisse Vorteile mit sich bringt. Noch einen Vorteil hat auch meine neue Zimmergenossin, denn ich glaube kaum, dass sie registriert, wenn ich andauernd brechenderweise überm WC hänge... Ich wünschte jetzt nur, ich wäre müde... So schrecklich müde, dass ich gleich einschlafen könnte. Aber da es hier im Norden ja erst sehr spät dunkel wird, wird das mit dem „Fingerschnipp und Schnarch“ nicht so recht hinhauen. Morgen ist auch noch ein Tag, ein erneuter Kampf gegen das Verlangen, sich nicht 1 sondern 2 Brötchen zu bestellen. Aber erneut werde ich hart bleiben, selbst wenn der Hunger nun wieder langsam wiederkehrt und sich meine Geschmacksnerven neutralisieren und dieser widerliche Nachgeschmack nachlässt...


 

8. Juli, Samstagmorgen

Ja, mein Aufenthalt hier ist bald zu Ende. Ein bisschen wehmütig stimmt es mich schon, war doch so lustig wie noch nie, und so nett und zuvorkommend wurde ich auch noch nicht behandelt. Geschlafen habe ich nicht so toll, denn die alte Dame steckt noch voller Elan, springt mit Schwung vom und ins Bett, lässt die Türen knallen, trampelt wie ein Elefant zwischen Bad und Bett hin und her, gibt gelegentlich ihren Körpergasen lautstark freien Lauf...  Und sie flucht! Und wie sie flucht; kann gar nicht sagen, wie oft sie das Wort SCHEISSE gestern in den Mund nahm. Und ein einseitiges Verständnisproblem gibt es auch, denn ihr plattdeutscher Slang ist schon ein harter Brocken. Im Notfall kann ich ja mein Heanzisch vom Stapel lassen, um zu beweisen, dass ich ihr in nichts nachstehe. Und auch nun ist es wieder so weit. Soll ich mir für morgen früh meinem Grundsatz treu bleiben und nur ein Brötchen bestellen oder dürfen es doch mal 2 sein, um das Frühstücksei auch leichter runterwürgen zu können? Ich bin hin- und hergerissen und die alte Dame seufzt immer so erwartungsvoll, als ob sie mich zu einem Wortwechsel auffordern wolle. Ich zucke schon jedes Mal zusammen wenn ihr Huster oder ein plötzliches „Na!“ die Stille zerreißt. Was soll ich denn groß sagen? Mir ist schlecht, ich hab Hunger und ich mag nicht reden, denn ich muss drüber nachdenken, wie ich den Konflikt „1 gegen 2“ löse... Nun ist’s zu spät: Hab mir soeben 2 Brötchen bestellt, habe somit den Kampf endgültig verloren. Was soll’s! Heute esse ich ohnehin nicht soviel, da wie schon mit Freuden angekündete Rührei auf dem Speiseplan steht :o(

Abend

Das Warten auf irgendwas hat mich ganz depressiv gemacht. Jetzt regnet es und auch ich fühle mich wie aus allen Wolken gefallen. Ich war wieder den Tränen nah... Stempeln wir es einfach mal als Krankenhausendphase ab. Na, wie jedes Mal dasselbe Theater, nichts Neues. Nun gibt es bald Abendbrot, worauf ich mich auch freue. Heute war aber was das Thema Essen betrifft sowieso ein seltsamer Tag. Ich war schon fast zu deprimiert um mich übers Klo zu hängen. Der Drang war nicht da, getan hab ich’s dann trotzdem, obwohl es dieses mal keine richtige Befriedigung war. Schon irgendwie komisch.. So ein „hängen lass“ Tag. Und doch musste ich wieder einige Sachen zur Aussprache bringen, über die ich viel nachgedacht habe und die mich zutiefst verletzten. Sebastians ewigen Notlügen und Ausreden machen mir gewaltig zu schaffen. Ich hab Probleme ihm zu vertrauen, sehr, sehr große sogar... Und solche Kleinigkeiten reißen die Wunden dann immer wieder auf’s Neue auf und ich hab wahrlich schwer damit zu kämpfen. Ich bat ihn jetzt zum 100sten Male darum, es zu unterlassen irgendwelchen Schwachsinn zu erzählen.. Ich hätte dabei fast geweint, vielleicht hat er gesehen, dass meine Augen plötzlich rot wurden und glänzten und vielleicht begreift er dann, wie wichtig das für mich ist. Die Welt ist falsch genug, aber ihn liebe ich, ihm gegenüber soll ich mich fallen lassen können, mich gehen lassen können, aber das klappt nicht, wenn nur der kleinste Funken von Misstrauen da ist... Und ich bin misstrauisch, manchmal sogar schon etwas krankhaft...


 

9. Juli, Sonntagmorgen

Meine Güte, habe ich schlecht geschlafen. Kaum liege ich im Bett rasen die Gedanken durch meinen Kopf, als ob es keine Geschwindigkeitsbegrenzung gäbe und die Narrenfreiheit ausgerufen wurde. Und mein Herz hetzt hinterher, was ich spüre, weil mir das Blut in den Schädel schießt. Ein richtiges Wettrennen haben diese Gedanken durch meine Gehirnwindungen veranstaltet.. Es war fürchterlich. Ich hab’s dann am Ende mit Atemübungen versucht und konzentrierte mich nur noch aufs Ein- und Ausatmen. Und es muss dann wohl auch irgendwann funktioniert haben und darüber bin ich mehr als froh. Wird endlich Zeit, dass ich wieder nach Hause komme. Sebastians Anwesenheit lässt mich diesen ganzen Schrott vergessen, ohne dass ich mich bemühen müsste. Mir ist ganz übel wenn ich an diesen gestrigen Zustand denke. Und irgendwie freue ich mich gar nicht mehr auf meine zwei frischen Sonntagsbrötchen. Wenn das heute Abend wieder so ein Einschlafspektakel wird, dann.... Wenn ich nur daran denke, fängt mein Herz wieder wie verrückt an zu schlagen und ich fühle wie es schon bis in meinen Hals ausholt. Und was macht der traurige Rest? Der zittert, wie eh und je und ich seh mich wieder mal die Brötchen jonglieren. Ein Trauerspiel, sag ich dazu nur; mehr oder etwas Treffenderes fällt mir dazu nicht ein. Vielleicht sieht nach dem Frühstück alles etwas rosiger aus. Es sind ja nur noch 3 Tage, 2 schreckliche Nächte, 3 Vormittage, bei denen man meint, vor Langeweile schon an einer Stelle zu verwesen und einem die Augen fast raus fallen vor lauter „Türschnallendaueranstarren“...


 

10. Juli, Montagmittag

Es ist schon komisch, aber in gewissen Situationen schafft man es einfach nicht, mit dem zufrieden zu sein, was man hat oder nach langem endlich erreicht hat. Das heutige Abwiegen ergab nämlich, dass ich 64kg schwer bin. Es ist ein Teufelskreis und ich wünschte, ich hätte wieder zugenommen, anstatt noch einen Kilo zu verlieren. Wie lange ist es her dass ich 64kg wog? 5 Jahre? Mehr? Ich würde mich gerne freuen, aber eigentlich empfinde ich nur panische Angst. Ich rede mir ein, dass ich jetzt nicht mehr zunehmen darf; NEIN! Es darf einfach nicht mehr sein. Gleichzeitig sehe ich mich unter Druck, weil ich nicht so recht weiß, wie ich dieses Gewicht halten kann, soll, wie auch immer. Ich möchte diese Zustand genießen, aber das bleibt mir verwehrt. Ich bin nur traurig. Der bevorstehende Umzugsstress macht mir arg zu schaffen. Ich schlafe immer schlechter, hatte ich die letzten zwei Tagen immer wieder Panikattacken, meine Haare gingen mir heute beim Haarewaschen büschelweise aus und wohl fühl ich mich weiß Gott nicht. Ich könnte jetzt auch nicht behaupten: „ Mein Gott! Bin ich schön schlank geworden!“. Ich sehe nix; vielleicht ein bisschen weniger Bauch, aber sonst nichts. Mir fiel der Verlobungsring heute zweimal einfach so vom Finger, also sind diese auch dünner geworden? Jetzt hab ich diesen Körper schon bald 20 Jahre und so gut kenne ich ihn. Was soll ich denn nun machen? Eisern weiterhungern und leiden und mich tapfer weiterhin übers Klo hängen? Soll ich mir sagen: ,, Mit 70kg hast du auch nicht anders ausgesehen, warum willst du dich quälen?“. Und das Gewicht kann ich ohne Anstrengungen halten. Was bleibt mir noch übrig, welcher Ausweg? Das Mittagessen hängt mir schon wieder im Hals, mein Herz rast, meine Hände zittern, die Buchstaben verschwimmen, mein Magen schlägt Purzelbäume, meine Zimmergenossin schnarcht laut und penetrant, draußen regnet es und ich muss noch über 2 Stunden warten, bis Sebastian kommt und mich von der erdrückenden Langeweile erlöst. Eine Nacht muss ich noch überstehen, solange sie nicht so schlimm wird wie die letzten beiden... Morgen geht es endlich nach Hause, ENDLICH!!!!! Ich hab heute Nacht über unsre Beziehung nachgedacht, all die Hochs und Tiefs, die ewigen Abschiede, und ich hab still ins Kissen geweint. Warum weiß ich nicht so recht. Weil ich allein bin, weil ich all das Geschehene nicht verkraften kann, weil Sebastian mir fehlt,  so nah und doch so fern...

Abend

Ich bin müde und hoffe inständig, dass ich die heutige und letzte Nacht hier mit Schlafen und nicht mit Wälzen zubringen werde. Das Abendbrot hab ich verweigert, selbst als mich eine Schwester deswegen blöd anmotzte. Mir ist so fürchterlich übel, dass der Gedanke ans Abendbrot vollends ausreicht um mich zum Würgen zu bringen. Morgen um die Zeit lieg ich schon zu Hause auf der Couch in den Armen meiner großen Liebe, keiner verlangt von mir etwas zu essen, was ich nicht will...

64kg, ich glaub es immer noch nicht. Vielleicht seh ich auch deswegen nichts, weil das Kortison nun doch seine Wirkung zeigt und ich etwas aufgeschwemmt bin. Der Ausschlag nimmt nun auch kontinuierlich Stück für Stück meiner Haut in Besitz. Aber das ist nicht so tragisch wie sonst immer, meine ich zumindest...

Jetzt strahlt natürlich die Sonne beim Fenster herein und vorher hat es gedonnert, dass einem Angst und Bange wurde. War doch klar, irgendetwas muss mich ja wieder beim Einschlafen stören. Ich hoffe mal, meine Magennerven spielen nicht all zu verrückt was sie ja ohnehin nonstop tun. Aber mein Essenverweigern beruhigt sie vielleicht und stimmt diese gnädig. Als ich das Tablett mit dem Brot und den Essiggurken sah und das Zeug vor allem noch roch, musste ich ins Bad rennen und hing dort ne halbe Ewigkeit mit Tränen überströmten Gesicht überm Klo. Ich habe heute auch ein paar mal fast geweint, die Tränen kurz vorm über die Wangen kullern. Sebastian hat mir das auch angesehen.... Er will morgen Abend auch nicht zur Fahrschule gehen, er will lieber bei mir bleiben. Erwartet hab ich’s nicht von ihm, bin aber dennoch mehr als froh darüber, denn psychisch bin ich am Boden, könnte jedes Sekunde ohne ersichtlichen Grund einen Weinausbruch bekommen. Selbst die Musik die ich nebenbei höre treibt mir schon Wasser in die Augen. Es sind die Lieder, die ich Winter 99 am Computer gemacht habe als wir das letzte Mal fast zwei Monate getrennt waren und so scheiße, wie ich mich damals gefühlt habe, so traurig klingen sie auch. Ich mag gar nicht daran denken, sonst wein ich heute Nacht wieder still in mein Kissen, also ob das Trost bringen würde. Das immer schlimmer werdende Gekotze, die Nervenzusammenbrüche, die Tränen, die Einsamkeit und um mich rum Kälte und Stille... Ich weiß, der kommende Winter wird auch so werden, ein neues Jahr, eine neue, kleine Tragödie. Nun ist es nicht so, dass ich es förmlich heraufbeschwören will. Nur ich habe diese Angst, und ich weiß, sie ist berechtigt. Aber diesen Winter werde ich nicht alleine sein, ein kleiner Lichtstreif am Horizont für mich. Ich liebe ihn so sehr und ich weiß nicht so recht, wie ich es zum Ausdruck bringen kann. Er fängt mich auf und behütet mich vor der Dunkelheit, in der ich wandle. Er ist mein Licht, die Wärme in meinem Leben, das ich mir selbst kalt gestalte, dass ich oft glaube, zu erfrieren. Es ist lange her, dass ich ihm so etwas gesagt habe, fällt es mir doch leichter etwas in geschriebener Form auszudrücken, als in gesprochener. Ich möchte ihm das gerne sagen, doch wann ist der richtige Moment? Zögere ich zu oft? Ich liebe ihn so sehr, ich könnte weinen, könnte sterben... Und ich frage mich: Geht es ihm vielleicht auch so, ein bisschen vielleicht? Doch warum hätte er sich sonst mit mir so überraschend verlobt?  Hat er es vielleicht schon manchmal bereut? Ist der Traum vorbei? Wie gern wär ich der Traum...  bin ich’s?


 

11. Juli, Dienstagmorgen

Endlich, ich hab’s überstanden. Dieser widerliche Krankenhausmief ist ja nicht mehr zu ertragen. Eine Mischung aus Exkrementen und Desinfektionsmittel; kein Wunder dass mir da speiübel wird. Meinem Magen geht’s noch nicht besser, aber mein Gemütszustand hat sich gebessert. Das nächste Vorhaben, das ich aufgezwungen bekommen habe, ist die Beschaffung von Imurek. Ergo: Ich muss gleich morgen losstarten zur Krankenkasse und dann zu dieser besagten Neurologin, damit die Therapie nicht abgebrochen wird. Kann ja noch lustig werden, dieses Präparat in Österreich aufzutreiben. Ich seh mich schon wieder von einem Arzt zum nächsten hin und hergehetzt. Ich bete jetzt schon inständig, dass der Krankenschein heute per e-mail eintrudelt, dann habe ich schon ein Problem weniger. Im Notfall muss ich es dann noch heute erledigen; weiß ja nicht, wann diese Ärztin da ist.

Es gibt gleich Frühstück, aber ich bin zu aufgeregt, um an das Essen zu denken. Mir ist schlecht, habe ich das überhaupt schon erwähnt? Ich will raus, raus, raus!!! Das Warten bis zur Visite stehe ich nicht durch, dafür bin ich viel zu zappelig und aufgeregt. Mir wird schon vom Atmen übel, so überdreht sind meine Magennerven. Ich hoffe nur, dieser Zustand ist so schnell wie nur möglich vorbei, denn erträglich ist er auf keinen Fall. Ach, wo bleibt denn das Frühstück? Wär’ ich wenigstens ein bisschen für kurze Zeit abgelenkt und hätte dann schon eine der letzten Krankenhaustagesetappen hinter mir. Jede Sekunde wird zur Stunde, kenne ich irgendwo her, wie damals am Bahnhof, beim ersten Mal. Seufz...

Wo bleibt das Frühstück? Ich hab einen widerlichen Geschmack im Mund, als ob ich heute im Schlaf ein PVC-Schlauchboot gekaut hätte... BÄH!

Frühstück ist geschafft, auch die letzte Dosis Kortison schwimmt jetzt im Magen (ich hoffe doch sehr, dass das das Finale war, weil die Dinger können noch so klein sein, runterkriegen tut man sie dennoch nicht). Jetzt ist mir nur noch schlechter als vorhin, wird Zeit, dass ich hier rauskomme. Bitte, bitte... Visite, komm bald!!


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